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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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ein warmer Wind aufgekommen, und die schichtförmigen Wolken zerreißen. Takelage und Blöcke schwingen, auch der Rauch ihrer Zigarette wird zertragen. Sie hält die Arme vor der Brust. Nach der Session in Hamburg ist Boris wieder in Berlin gewesen.
    Willem sagt nichts.
    Sie haben uns bespitzelt; sie haben unsere Tochter genommen. Wenn Boris die Schuldigen aufdeckt, wird er an dem Wissen zerbrechen; und wenn er sie nicht aufdeckt, wird er an dem Nichtwissen zerbrechen. Und Tatjana will nichts mit uns zu tun haben.
    Willem sieht sie an.
    Eine Zeitlang habe ich wirklich geglaubt, daß Boris seinen Schmerz durch die Musik überwinden könnte. Wenn ich ihn spielen sehe, scheint er entfesselt und jenseits, und nach den Konzerten nennen sie ihn einen Zauberpriester. Daß er innerlich schreit, sagt sie. Daß er schreit, habe ich geglaubt, würde ihm helfen. Doch jetzt, Willem. Jetzt zerrinnt mir dieser Glaube, denn Boris studiert die Akten wie besessen. Er spricht kaum noch, und ich spüre, wie ihn etwas einschnürt.
    Ist er auf einer Spur?
    Er war schon oft auf einer Spur, doch dieses Mal ist es anders. Er fährt bald wieder hin. Vielleicht morgen schon? Ich weiß es nicht.
    Sie steht und raucht.
    Sie ahnen etwas, oder?
    Nach einer Zeit sagt sie: Ich habe Angst.
    Manchmal schiebt der Wind die zerrissenen Wolken zusammen, und dann stehen sie wie Türme über der Stadt. Als Kronhardt aus dem Speicher tritt, wird sein Hut von einer Brise erfaßt. Er zieht ihn fester über den knorrigen Schädel und marschiert Richtung Marktplatz.
    Hinter Manilahanf und Blöcken steht Willem am Teleskop und hat den Alten im Fokus. Dann nimmt er die Treppen und verläßt ebenfalls den Speicher.
    Der Alte geht über den Marktplatz, und die Böen treiben Willem Spuren seines Rasierwassers zu. Dann marschiert der Alte einmal ums Rathaus und hält wieder auf den Marktplatz zu. Bei den Arkaden bleibt er stehen und schaut auf seine Uhr; wenn eine Brise auffährt, hält er seinen Hut, dann marschiert er stramm auf den Roland zu. Eine Touristengruppe hält sich dort versammelt: Ihre Köpfe bewegen sich zu den Worten einer Hosteß, und Willem macht unter ihnen mühelos eine große Frau aus und auch zwei oder drei große Männer. Kronhardt hat sich unter die Touristen gemischt, blickt mit ihnen aufs Rathaus, auf den Schütting und folgt der Hosteß Richtung Böttcherstraße. Die goldene Pforte, Expressionismus, rote Bildhauerfassaden, und voraus blitzt der Fluß.
    Als der Alte sich aus der Gruppe absetzt, läßt Willem ihn ziehen. Er ahnt, wohin Kronhardt will, und nimmt Weg über die Martinistraße und an Konetzkes Studio vorbei. Willem ist sicher, daß niemand ihm folgt, und hat den Martinianleger im Blick, noch bevor Kronhardt erscheint. Auf der großen Uhr ist die nächste Abfahrt angezeigt, und während der Alte auf den Ponton tritt, stößt die Barkasse bereits ins Horn. An Deck tummeln sich Ausflügler, und zum Wasser hin, auf einer Bank in der Sonne, glaubt Willem Steiner auszumachen. Und tatsächlich erscheint Kronhardts Gestalt bald auf der Backbordseite, nimmt die Sonnenbank.
    Während er auf die Rückkehr der Barkasse wartet, treibt der Wind Licht und Schatten über die Stadt. Einmal setzt sich eine große Frau in seine Nähe, und Willem meint, daß es ebensogut die Chefsekretärin aus der Reederei sein könnte, Dagmar Margulis.
    Nach zwei Stunden legt die Barkasse wieder an, und Kronhardt geht als einer der ersten von Bord. Als auch die letzten Passagiere den Ponton verlassen haben, ist Willem sicher, daß Steiner bereits unterwegs ausgestiegen ist.
    Zum Nachmittag tritt er durch die Tür mit der eingebrannten Galaxis und nimmt die Stufen gegen die Kamera.
    Erst einige Tage später legt sich der Wind und hinterläßt einen klaren Himmel. Willem steht im Garten; er hat einen Kometen im Teleskop, der mit aufschwellender Koma auf die Abendröte zuhält; sein Schweif zieht eine feine Glühspur durch den Raum. Barbara sitzt in der Hollywoodschaukel.
    Sie sagt: Katja hat ihrem Mann die Bilder im Internet gezeigt. Er schien nicht besonders überrascht und glaubt, daß man ihn einschüchtern will, damit er nicht weiter in der Vergangenheit stöbert.
    Willem sieht den Kometen gegen die Sonne ziehen; dahin, wo es keinen Westen mehr gibt und keinen Osten. Weißt du, was damals mit ihrer Tochter geschah?
    Nein.

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