Kronhardt
schlenderten durch die Ulmenreihen, und in der kleinen Grotte küÃten wir uns zum ersten Mal.
Boris wohnte gleich in der Nähe, in einem der gewachsenen Viertel. Hinterm Grau steckten wohl noch Klassizismus und Gründerzeit, doch innen war vom Luxus jener Tage keine Spur. Seine Eltern waren einfache Leute; der Vater kellnerte im Bahnhof, die Mutter nähte im Kombinat. Wenn es länger regnete, kam Wasser durch die Decke, und im Winter brachte der Kohlenofen kaum Wärme in die angrenzenden Räume. Doch seine Eltern beklagten sich nicht. Im Wohnzimmer hingen Urkunden und Medaillen von Boris, und in ihrem Viertel wurden sie freundlich gegrüÃt.
Als Boris mich mit in sein Zimmer nahm, war ich sehr überrascht. Ich weià nicht, was ich erwartet hatte; vielleicht das Porträt eines unserer GroÃen, Rimski-Korsakow oder Borodin, doch das Zimmer war wie eine Raumkapsel. Die Wände abgeschottet und die Poster wie Fenster in einen fremden Kosmos. Wilde Typen, die ich noch nie gesehen hatte, und einige schienen wie in Ekstase mit ihren Musikinstrumenten verwachsen; sie hieÃen Coltrane, Mingus oder Monk, sie hieÃen Hancock, Zappa oder Hendrix, und was ich bis dahin an Musik gekannt hatte, war ja kaum mehr als der Klassenauftrag für den Feierabend; Schlagerrevue oder das Rundfunk-Tanzorchester, und aus dem Jugendclub auch die Puhdys.
Und dann zeigte Boris mir seine Schätze. Unter einer Persenning stand ein Klavier, zwei Gitarren waren in Tuch geschlagen, und zuletzt holte er ein Magnetophon hervor, dazu Bandspulen mit Kilometern voll Musik. Boris schien jeden Zentimeter zu kennen, und ich war sprachlos, mit welcher Sicherheit er kurze Werkteile ausfindig machte. Er führte mir die eher strenge und klerikale Schönheit Bachs vor und dann Mozarts frivole Entfesselung. Er erklärte mir Schönbergs gefährliche Freiheit und nahm Schostakowitschs Verschleierungskreativität, um aufzuzeigen, wie Unterdrückung die Kunst steigerte, anstatt sie zu beschneiden. Und so ging er dann auch an die amerikanische Musik und machte vor allem Rassenpolitik und Industrialisierung zu den Triebfedern des Blues; er konnte die immer neuen Richtungen mit gesellschaftlichem Wandel verbinden, und dann zeigte er mir am Beispiel des Jazz, wie die Kreativität immer wieder geglättet und kommerzialisiert wurde, um dann in Abklatsch und Formeln zu erstarren. Und Boris zeigte mir, daà es immer wieder Visionen von Freiheit waren, die mit aller Tradition brachen und etwas Neues erschufen.
Wochen und Monate konnten wir in seinem Zimmer verbringen; wie in einer Kapsel durchschwebten wir Welten; wir hörten Jazz, Klassik und Rock, und ich nahm regelmäÃig die Pille.
Boris Lehrer an der Musikhochschule hielt die klassische Ausbildung auf einer linientreuen Höhe, indem er in seinen Prüfungen Liszt und Rachmaninow vorspielen lieÃ. Daneben konnte auch er sich für Kreativität und Entfesselung begeistern, und gemeinsam mit Boris gründete er die Jazz-Combo, die noch heute zusammen spielt.
Auf der Hochschule avancierte Boris zum Meisterschüler; danach spielte er im Orchester vor, er bekam dort einen Platz, und jenseits der Klassik hatte er seine Combo. Ich absolvierte anderthalb Jahre später in den Naturwissenschaften und wurde mit einer Urkunde für auÃerordentliche Leistungen geehrt. Boris und ich konnten als mustergültige Exemplare der neuen Generation erscheinen; eine integre Basis im groÃen Gespann.
Wir heirateten, und der Staat zögerte nicht. Ich bekam meine Wunschstellung am Polytechnikum, unserem Antrag auf eine Wohnung wurde zügig stattgegeben, und wir zogen in eine Stadtvilla, die alle GroÃbürgerlichkeit hinter Efeu abgelegt hatte. Das Haus war trocken, die Etagenbäder sauber, und wir hatten drei kleine Zimmer und für Boris einen winzigen Raum mit dicken Wänden. Tatsächlich waren die meisten Bewohner Musiker, und unser Wohnungsnachbar wurde Ernst Delitzsch, ein Stabführer a. D. der NVA .
Boris hatte von Anfang an den Verdacht, daà dieser Mensch nicht zufällig unser Nachbar geworden war, und blieb ihm gegenüber vorsichtig. Ein kleiner, dicker, sanguinisch wirkender Mann mit Glatze; er hatte seine Rituale, morgens Schlag sieben saà er auf der Toilette, dreimal die Woche duschte er, und jeden Sonntag bekam er Besuch. Er bemühte sich nicht um Vertraulichkeit, und wenn man sich im Treppenhaus begegnete, zog er
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