Kronhardt
seinen Hut. Die anderen Nachbarn konnten nichts Schlechtes über ihn sagen, ein verwitweter Kapellmeister, der sich noch im Ruhestand mit Armeemusik befaÃte, und sein kleines Handbuch zur Geschichte dieser Musik schien eine Art Standardwerk zu sein. Und Delitzsch klagte nie â man konnte laut spielen, egal, zu welcher Zeit, diesen Mann schien das nicht zu stören. Doch Boris behielt seine Bedenken.
Trotzdem fiel uns die Anpassung in der neuen Umgebung nicht schwer. Wir waren jung, der Staat hatte uns eine solide Basis geschaffen, und wir entwickelten unsere Utopien für diesen Staat und auch für unser eigenes kleines Glück. Bei den Nachbarn und in den Geschäften wirkten wir zuversichtlich und überzeugt vom gemeinsamen Fortschritt; wir wollten vom groÃen Bruder lernen, wir wollten besser sein als der Klassenfeind, wir machten unsere regelmäÃigen Schulungen, und wenn wir es mit Verbindungsleuten zum Politbüro zu tun hatten, sahen wir unsere Begabung stets als eine Funktion im übergeordneten Prinzip. Und als mein Arzt mir dazu riet, die Pille abzusetzen, konnte ich in diesem Mann die ganze Fürsorge des Staates erkennen, aber auch ein weiteres Steinchen für unser privates Glück.
Boris schrieb Stücke für die Combo, er spielte dort Gitarre und Klavier, und auch im Orchester kam er bestens zurecht; seine Kollegen schätzten die Technik und die tiefe Musikalität, mit der Boris immer wieder ungeahnte Möglichkeiten des Klavierspiels offenbarte, und noch mehr schätzten sie seine bescheidene und stille Art, mit der er den Applaus für sein Können immer auch zum Applaus für das Ganze machte.
Unsere Tochter wurde im Juli geboren. Es war ein sehr heiÃer Tag mit klarem Himmel. Wir nannten sie Tatjana, und in den ersten Wochen waren wir zusammen, so oft es ging. Wir hatten das Magnetophon am Bett und hörten jazzige Stücke, ich stillte Tatjana neben dem Klavier, und Boris spielte Chopin dazu. Wir schwebten dahin in unserer Kapsel, wir waren überzeugt, daà die Musik auch in unserem Kind einen Raum für Freiheit und Glück erschaffen würde.
Ich stillte Tatjana, bis ich den Bescheid bekam zur Wiedereingliederung. Es fiel uns schwer, unser Kind in die Krippe abzugeben. Ich nahm meine Arbeit an der Polytechnischen wieder auf, und im nächsten Jahr gab Boris zuerst ein Gastspiel in den Mecklenburgischen Schlössern, dann fuhr er mit dem Orchester nach Ungarn.
Wir waren eine junge sozialistische Akademikerfamilie, und um Raum für unsere Nischen zu schaffen, führten wir ein recht vorbildliches Leben. Wir hielten regelmäÃig Kontakt zu unseren Eltern, feierten mit den Nachbarn und waren im Kulturbund. Im Urlaub fuhren wir mit den Freunden aus der Combo in den Thüringer Wald und besuchten die Goethehütte; wir fuhren zum Camping ins Feldberger Seengebiet, Nacktbaden, Lagerfeuer, und manchmal, wenn das Orchester in Berlin spielte, durfte Boris Tatjana und mich mitnehmen.
Auf einer dieser Gastspielreisen lernten wir einen groÃen Musikkritiker kennen. Er schrieb fürs Staatsorgan, doch hinter seinen Worten konnte sich eine groÃe Leidenschaft offenbaren; er gebrauchte die Wörter Kreativität und Entfesselung, und er schien Freiheit in der Kunst für unabdingbar zu halten. Der Kritiker lud uns zum Essen ein, und später nahm er uns in seinem Auto mit zum Prenzlauer Berg. Man kannte ihn dort und begrüÃte ihn herzlich, und als er uns als Freunde vorstellte, wurden auch wir herzlich aufgenommen. Natürlich hatten wir von der Boheme gehört, doch dieser radikale Freiraum machte uns befangen. Solche Spontaneität und Offenheit waren wir nicht gewohnt, und diese Menschen dort erschienen uns wie aus dem Westen verpflanzt. Sie gaben sich, als ob Protestkultur und Flower-Power überall wären. Doch ebenso konnte es sein, daà alles nur ein Bluff war und die Stasi sich hier eine Enklave kontrollierter Freigeistigkeit hielt.
Als wir wieder zu Hause waren, entschieden wir uns gegen diese Boheme. Das, was wir hatten, erschien uns unglaublich viel; wir hatten Tatjana und uns, wir hatten Polytechnikum und Orchester, und jenseits der Sessions waren wir mit der Combo und ihren Familien recht vertraut.
Ihr Blick ist fern, und Willem ahnt die Dramatik dahinter.
Als der Kellner plötzlich an ihrem Tisch steht, schrecken beide auf. Dann deutet der Alte eine Verbeugung an und sagt: Es wird bald regnen. Wir
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