Kronhardt
Möglichkeiten aus sich heraus. Schaum oder gasige Blasen entstehen, aus Glutmustern und StoÃwellen flimmern Spiralarme auf, rotieren in den Raum, und so schiebt sich die Welt jenseits der Fenster von einem Zustand in den nächsten. Tiefenschärfe verschmiert in dunkler Körnung, aus dem Diffusen heraus dehnen sich Raum und Zeit, kehren sich wieder um, und so können sie aus dem Waggon Mohnfelder sehen. Kiefernwälder und bald Duisbergia und Archaeopteris; ein Blick, der sich zuletzt weit über das Gedächtnis der Menschheit hinausdehnt, doch dann zerschwirren auch Jura oder Kreide wieder, und alles Festgeglaubte wird erneut sprunghaft und unscharf.
Schollen überholen den Zug; Vulkane, Wüsten, Melonenfelder. In den Waggons rufen die Ziegen, die Truthühner kollern, und auch die Kinder fallen mit ein. Die Köpfe der Alten treiben dahin, sie summen, ein urtümlicher Singsang, der die Kinder beruhigt, und bald dösen auch die Tiere wieder ein.
Aus den Gleislängen schlägt der beruhigende Takt, die Männer stehen auf dem Perron, und die Welt zieht wieder in vertrauter Festigkeit vorbei. Nach einer langen Kurve durch die Nacht stöÃt der Zug ins Morgenlicht. Eine weiÃe Gebirgslandschaft erscheint, verwittert mit Spalten und Klüften, und hoch über einem Fluà können die Männer schwarze Flecken sehen, ein Höhlenzug wie aus der Jungsteinzeit.
Mit den ersten Sonnenstrahlen weicht sich der karstige Dolomit in roten Boden, und auf sanften Hügeln zieht ein Wald gegen den Horizont. Bald fliegen Tukane oder Papageien, bald steht die Sonne über einem Nebeltal, und goldene Baumspitzen ragen hervor oder Pyramiden. Vom Perron sehen sie das Land im Morgenlicht; die grünen Hügel in der Ferne gestaffelt und dahinter, bis auf in den Himmel, schneebedeckte Spitzen. Gelegentlich zieht ein Dorf vorbei; Hunde jachtern, oder junge Frauen mit glänzendem Haar erscheinen aus einer Hütte. Manchmal stehen Esel am Wegesrand, Bananenstauden liegen zum Abtransport, oder auf groÃen Planen sind Kaffeebohnen ausgebreitet. Zwei- oder dreimal noch sehen die Männer Pyramiden, golden im Sonnenlicht und höher als der Wald, und als der livrierte Bursche auf dem Perron erscheint, nehmen sie ein kleines Frühstück. Der Bursche kratzt sich am Kopf und gibt schlieÃlich zu, die Landschaft ringsherum nicht zu kennen. Er sei schon häufiger in die Hauptstadt gefahren, doch hier sei er noch nie durchgekommen.
Der Pfiff verzerrt in der klebrigen Luft, und als der Zug zum Stehen kommt, drückt feuchte Hitze auf die Waggons. Vogelhändler stehen am Bahnsteig, Frauen sitzen an kleinen Webstühlen. Sie haben ein Städtchen erreicht, und vom Rande einer Ebene fällt ihr Blick abwärts über einen See. Im ersten Anblick erscheint er wie ein Saturnkörper, gelbe Ringe um tiefes Grün, doch dann wechseln die Farben, von Türkis zu Blau oder Violett, als fiele das Licht auf ständig neue Beschaffenheiten, und an den fernen Ufern sehen die Männer glänzende Kegelberge. Manchmal umziehen Wolkenringe die gekappten Spitzen, und manchmal liegt die Wasserfläche wie eine Tafel da, in der noch der Himmel versilbert.
Diesseits erhebt sich aus dem sandigen Ufer ein Marmorsockel. Darauf steht ein lichter Bau mit Eingangssäulen und Kuppeldach, und als die Frauen auf den Perron treten, haben sie Tränen in den Augen. Das Varieté, sagen sie, und die Männer heben die Schultern. Der livrierte Bursche jedoch nickt; gewiÃ, das sei das famose Varieté. Wo aber die Hauptstadt geblieben ist, kann er nicht sagen. Die Menschen, die rings um den Bahnsteig stehen, machen nur eine Geste; als wäre die Hauptstadt etwas aus einer anderen Welt, und sie geben zu, daà das Varieté noch nicht lange am Seeufer steht. Wo es plötzlich hergekommen ist, wissen sie nicht. Sie wollen es auch gar nicht wissen, denn seit jeher geschehen Dinge, die sie nicht erklären können. Schon die Alten blieben demütig vor den groÃen Rätseln, und so halten sie es auch heute noch. Sie geben sich zufrieden damit, nicht die ganze Welt zu verstehen, und wenn plötzlich ein Varieté da ist, ist eben ein Varieté da.
Die Frauen haben Täschchen dabei, und sie geben den Männern zum Abschied einen KuÃ. Sie haben sich entschieden, und daà sie ihr Varieté wiedergefunden haben, macht sie glücklich. Sie winken vom Bahnsteig, als der Zug wieder
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