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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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engste hieran gekoppelt, schrieb er, wäre die menschliche Angst vor dem eigenen Tod. Und an ebendieser Angst machte er die unüberwindliche Rauschanfälligkeit des menschlichen Gehirns fest; an dem Dilemma, vielleicht die Evolution überwinden zu können, aber nicht das sterbliche Ego. Aus dieser unüberwindlichen Angst vor dem eigenen Tod also, behauptete von Wrangel, entstünde der Drang des Gehirns, sich ständig selber zu berauschen; beziehungsweise berauschende Scheinwelten zu installieren, und er sprach sich ganz entschieden dafür aus, an dieser hausgemachten Anfälligkeit zur Verzerrung von Wahrnehmung und Wirklichkeit anzusetzen. Und so forderte er auch für die sozialistischen Länder den flächendeckenden Einsatz von Rauschmitteln, die einerseits dem einzelnen halfen, seine Ängste vor Tod und Egoverlust zu zerstreuen, und die andererseits der Staatsführung halfen, in der Masse gewünschte Wirklichkeiten zu installieren. Wenn es also gelänge, ein künstliches Netzwerk zu erschaffen, das ständig mit dem menschlichen Gehirn wechselwirkte und alle künstlichen Dimensionen ins Natürliche verzerrte, dann wäre man wie mit geisterhafter Fernwirkung jederzeit in der Lage, Überzeugungen zu implantieren und Handlungen derart lenkbar zu machen, daß die Betroffenen stets von ihrem freien Willen überzeugt blieben. Eine Masse, schrieb von Wrangel, die wie die Spartaner noch glücklich in den Krieg ziehen würde und zuletzt, als käme der Antrieb dazu aus ihren Genen und neuronalen Verschaltungen, wie selbstverständlich daranginge, den Westblock ein für allemal zu zerschlagen.
    In Moskau lasen die Genossen von Wrangels Abhandlung und tranken dazu Wodka. Sie waren sich einig darüber, daß ein flächendeckender Einsatz von Fernsehapparaten die Produktionskraft der Sowjetvölker schwächen würde und daß man sich an die altbewährten Instrumente der Macht halten müsse.
    Doch in Wirklichkeit hatten sie in Moskau Angst davor, jedem Bürger einen Fernseher hinzustellen, weil sie natürlich bestens über Möglichkeiten und Mechanismen einer staatlich gelenkten TV -Industrie informiert waren und wußten, daß der Äther die große Schwachstelle war. Daß es keine absolute Kontrolle über diesen Raum gab – nichtwahr, daß jederzeit zersetzende Informationen aus diesem Raum die Sowjetvölker erreichen konnten, die ganze Bandbreite der millionenfach in die Köpfe gehämmerten kapitalistischen Dekadenz. Nein, so einen Ätherkrieg wollten sie sich in Moskau nicht leisten, und mit den eingefleischten Methoden würden sie das Bewußtsein der Brudervölker auch weiterhin auf ihre Art kalibriert halten. Und so tranken sie Wodka und vergaßen von Wrangels Abhandlung.

9
    Am nächsten Morgen erscheinen die Kordilleren aufgelöst; die bis an die Gleise langenden Wände haben sich weit in den Raum verschoben, der Zug fährt durch offene Prärie. Schemenhaft erscheinen Kakteen im aufsteigenden Dunst, und wenn die Sonne durchbricht, versilbert die Perspektive. Einmal sehen die Männer Leuchterscheinungen in den Nebelschatten, ein anderes Mal die Umrisse eines Trupps, wie Saurier oder große Vögel.
    Als der Bursche das Frühstück bringt, ist er aufgeregt; die Bergketten, sagt er, ziehen sich in dieser Gegend bis an den Horizont zurück, und gegen Mittag würden sie den See und die Tafelberge erreichen. Wenn alles normal bliebe, würden bald darauf in der Ferne die Pyramiden auftauchen und im Nachmittagslicht dann die ersten Reflexionen aus der Hauptstadt.
    Die Ramows schlagen dem Burschen auf die Schulter; sie sind zuversichtlich, daß der Lokführer sie bis ans Ziel bringen wird.
    Willem sieht die ziehende Landschaft; manchmal liegt der Nebel in Schichten da, manchmal verschwindet er in der aufsteigenden Wärme, und die Farben von Prärie und Himmel stechen durch. So zieht er durch diese Welt; mit seinen Prägungen, seinen Erinnerungen, seiner Wirklichkeit. So steht er auf dem Perron wie damals mit seinem Vater, und er vermißt seine Frau.
    Breschnew also erkannte ganz klar, daß Kriege im Äther nicht unter Kontrolle zu halten waren und daß die russische Seele Wodka brauchte. Reagan hingegen war fest von der Wirksamkeit einer flächendeckenden Bewußtseinsindustrie überzeugt, und was die amerikanische Seele betraf, war er ein aufrechter Bürger. Auch er

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