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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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dann kam so etwas wie ein Blitz, und dann … dann ist der Faden gerissen.
    War ich gegen die Tür gestoßen? Nein. Es stand auch nichts im Weg zum Dagegenstoßen. Kein Schrank, kein Balken, kein offenes Fenster.
    Woher bekomme ich aus dem Nichts einen Schlag auf die Nase?
    Das Blut sickerte weiter, mir war schlecht, hatte ich eine Gehirnerschütterung?
    Zum zweiten Mal an diesem schönen Sommertag fuhr ich nach Kempten.
    Mit einem blutigen Handtuch um den Hals.
    Krankenhaus.
    Unfallambulanz.
    »Sie schon wieder?«, sagte die Krankenschwester an der Aufnahme.
    »Hausarzt?«
    »Klinikum Kempten.«
    »Wie, was? Ihren Hausarzt!«
    »Dr.   Graf.«
    »Die Dr.   Graf von uns hier?«
    »Ihre Schwester.«
    War mir gerade so eingefallen.
    »Ah so. Wusste gar nicht, dass die eine Schwester hat. Sie hat heut wieder Dienst.«
    »Wunderbar. Passt ja alles.«
    »Sie schon wieder?«, sagte Dr.   Vasthi Graf.
    Sie war nicht geschnappig. Sondern freundlich. Wohlwollend.
    »Noch ein Piercing heut?«
    Ich deutete auf meine Nase.
    »Oh, die Nase! Uhhhhh.« Sie verzog das Gesicht.
    Ja, genau so musste meine Nase aussehen.
    »Wo sind Sie denn da dagegen gelaufen?«
    »Keine Ahnung. Auf einmal lag ich da …«
    »Oder haben S’ Ihre Nase wo reingesteckt?«
    »Ich meine Nase …«
    Ein Ruck ging durch mich hindurch. War das die Botschaft: Steck deine Nase nicht da rein?
    Die Botschaft für mich.
    Von wem?
    Wer konnte wissen, dass ich so gut wie alles wusste?
    Sie schaute sich meine Nase genau an.
    Drückte. Ruckte.
    »Au!«
    »Die Schmerzen sind das Schlimmste«, sagte sie.
    Ich sagte:
    »Und wie ich ausschau … Schmerzen vergehen, aber eine Visage nicht. Werd ich jetzt eine eingeschlagene Nase für den Rest meines Lebens mit mir rumtragen? Und ein neues Passbild machen lassen müssen …«
    »Nein, man wird nix sehen. Wir machen die Nase sogar gerader wie vorher. Fast wie eine Schönheitsoperation. Da wird die Nase oft künstlich gebrochen, damit man sie wieder schöner hinkriegt.«
    Sie untersuchte weiter und schüttelte den Kopf.
    »Sie hätten tot sein können. Es war offenbar ein Schlag. Aber das Seltsame ist, dass der Schlag nur die Nase getroffen hat. Sie hätten Ihr Gesicht einbüßen können. Aber es war ein gekonnter Schlag.«
    »Ein Profi?«
    »Ja, ein Profi, könnte man sagen.«
    Ich dachte: Haben sie jetzt einen echten Killer auf mich angesetzt?
    Dr.   Graf sagte:
    »So was kann nicht jeder. Zuhauen kann jeder. Ich habe schon jede Menge eingeschlagener Nasen gesehen. Oder eingeschlagene Gesichter. Auf jedem Dorffest kriegen wir ein paar davon. Blutige Nasen. Einfach draufgehauen. Oder reingetreten. Aber das hier sieht anders aus.«
    »Wie?«
    »Eben profimäßig … wie ein Chirurg. Ein Orthopäde oder Chirurg könnte so was.«
    Mir fiel aus meiner Krankenhauszeit ein, wie sich eine Krankenschwesternschülerin geschämt hatte, als sie zum Bewerbungsgespräch mit ihrer Mutter ankam, und sie, die Tochter, sagte, sie würde gern in der Chirurgie arbeiten, da unterstützte die Mutter das Argument, sagte: Der Papa ist ja auch Metzger.
    Ich konnte nicht lachen, die Nase tat zu weh. Fragte:
    »Kann ein Metzger auch so was?«
    »Ein guter Metzger kann so was. Ein guter Metzger kann mit einem Sauschlegel eine Sau mit einem einzigen Schlag hinmachen.«
    »Ah so!«
    »Ja. Glück gehabt. Wir können die Nase zurechtrücken. Einfach so. Oder morgen eine Operation ansetzen. Wenn Sie gleich wollen …?«
    »Gleich!«
    »Können Sie Schmerzen aushalten?«
    »Klar«, log ich.
    »Dann legen Sie sich hier hin!«
    Ich legte mich.
    Sie drückte auf meine Nase.
    »Gleich tut’s weh!«
    Ich dachte an das Gewitter innen. Diesmal kam der Blitz lautlos. Und dann war es dunkel.
    Als ich erwachte, stand die Krankenschwester neben mir.
    »Nehmen S’ das. Würfelzucker mit Klosterfrau Melissengeist.«
    »Ich bin aber protestantisch.«
    »In Kempten ist man katholisch! Fertig.«
    Der Zucker mit Melissengeist schmeckte himmlisch. Das letzte Mal, als ich Würfelzucker mit Melissengeist zu mir genommen hatte, war vor vierzig Jahren gewesen, beim theologischen Examen in dem schönen fränkischen Ort Ansbach. Den ich seither hasse. Ich war so aufgeregt, dass ich zum Hausmittel meiner Oma griff. Es half. Ich wusste damals allerdings nicht, dass Melissengeist zu achtzig Prozent aus Alkohol besteht. Aber es war ja auch ein geistliches Examen. Kirchengeschichte. Note vier. Jetzt erlebte ich wieder Kirchengeschichten.
    Der Melissengeist und die Erinnerung

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