Kruzifix
die Arme über ihrer fülligen Brust. Ihr Interesse am Gespräch flaute ab.
Ich fragte:
»Trauen Sie dem Adolf zu, dass er den Theo umgebracht hat?«
Sie war wieder voll da.
»Der Theo ist an Herzschlag gestorben. Das ist sogar in der Zeitung gestanden.«
»War auch nur eine hypothetische Frage.«
»Egal welche Hypo-Frage: Das ist Unsinn! Der Adolf hat den Theo nicht mögen, das stimmt. Aber umbringen … dazu war er zu schwach.«
»Also doch?«
»Was doch?«
»Also können Sie sich doch vorstellen, dass er zu so was fähig gewesen wäre, der Adolf. Wenn er noch gesund gewesen wäre.«
»Ich glaub«, sagte sie, »auch dann nicht. Er ist nicht der Typ. Er ist kein Macher. Er denkt sich eher Sachen aus. Er hat sich immer so schöne Geschichten für die Kinder ausgedacht …«
Sie fing an zu weinen.
»Sind der Adolf und der Toni dicke Freunde?«
Sie weinte noch mehr.
»Sie und die Toni sind doch auch dicke Freundinnen.«
Sie weinte noch heftiger. Drehte sich um und rannte den Weg hinunter.
Wohin?
Naseweis
Um neun am Abend war ich der letzte Gast im »Schwarzen Adler«. Der einzige.
Der vorletzte war um Viertel vor neun gegangen. Geflohen.
Toni war in die Gaststube getreten. Hatte mich erblickt. Sich auf dem Fuße rumgedreht, und schon war er wieder draußen.
Kein Wunder.
Unsere letzte Begegnung war so intensiv, dass es uns beiden für die nächsten paar Jahre langte.
Ich zahlte. Die Wirtin war nicht gesprächig, sie war froh, dass sie mich loshatte und absperren konnte.
Der Schlüssel drehte sich hinter mir.
Ich schritt den Kuhfladenweg hinauf, am Haus von Benedikt vorbei. Auch schon tot. In der Kirche hatte ich das Gedenkkärtchen gesehen. Am 2. April war er verstorben. Schade. Ich hatte ihn vor ein paar Jahren interviewt. Er war wegen seiner Kapelle bekannt geworden, und wegen seiner Depression. Die Kapelle war wegen der Depression entstanden. Benedikt war ein Baum von einem Mann gewesen, Vater von sieben Kindern, Bergsteiger, Gemeinderat und Chef der Straßendienste im Raum Kempten. Ein Erfolgstyp. Dann packte ihn die Depression. Er heulte jede Nacht sein Kopfkissen voll. Er musste seinen Job aufgeben. Überforderung. Eines Tages sagte er den Ärzten in der Psychiatrie, er muss jetzt gehen und eine Kapelle bauen, die Tag und Nacht offen ist. Er baute die Bruder-Klaus-Kapelle. Sie ist benannt nach dem Heiligen Nikolaus von Flüe aus der Schweiz, 1417 geboren, dem Schutzpatron der katholischen Landjugend. Sie beherbergt auch eine Statue der Mutter Gottes von Medjugorje, die erstmals 1981 in Bosnien-Herzegowina erschien. Der Bruder Klaus und die Mutter Gottes thronen über dem kleinen Altar wie ein heiliges Paar.
Ich interviewte ihn in dieser Kapelle. Ich wollte mehr über Depression erfahren. Ich hielt dann einen Vortrag drüber in einer kirchlichen Akademie, er kam ganz gut an, und schrieb in einem Buch ein Kapitel über Benedikt und seine Depression. Ich wollte es ihm immer schenken. Jetzt war es zu spät. Jedes Mal, wenn ich auf die Biselalm fahre, komme ich an einem großen Kreuz vorbei, in der Nacht leuchtet es, das letzte Werk von Benedikt, ein Kreuz für die Mutter Gottes von Medjugorje, oberhalb der Bruder-Klaus-Kapelle.
Ich trauerte um ihn. Bergauf. Ein Trauerweg.
Die Nacht hatte sich herabgesenkt.
Gut.
Keiner sah, dass mir die Tränen runterliefen.
Geht ja auch keinen etwas an.
Ich steckte den Schlüssel in die Tür von der Alm. Drehte ihn rum …
Dann wachte ich auf.
Mitten in meinem Gesicht pochte es.
Mein Gesicht war ein Pochen.
Die Nase geschwollen. Verklebtes Blut.
Ich tastete mit der Zunge nach meinen Zähnen. Sie waren noch drin.
Meinen Kopf konnte ich heben.
Meine Finger bewegen.
Die Beine auch, auch die Füße und die Zehen, ich war aber nicht sicher, ob sie mich tragen würden.
Ich lag auf der Treppe vor der Tür zur Alm.
Die Bestandsaufnahme ergab: Das Pochen war das Einzige, was mit mir nicht stimmte. Meine Nase. Sie tobte. Ich betastete sie. Ich hatte schon immer eine »Gumpfel«, wie die Schwaben sagen, eine Knollennase, und schon öfter hatten mich in meiner aktiven Zeit feinfühlige Gläubige taktvoll gefragt, ob ich früher mal Boxer gewesen sei, weil meine Nase so ausschaut. War ich nicht. Wäre ich aber gern gewesen. Besonders jetzt.
Dann erinnerte ich mich: Ich hatte die Haustür aufgesperrt, und dann kam eine Art Gewitter. Ich dachte, komisch, draußen ist kein Gewitter, das ist innen im Kopf, war fast belustigt, ein Gewitter im Kopf, und
Weitere Kostenlose Bücher