Kryptum
Angst beschlich? Aber diese Spur war zu wichtig, als daß er riskieren konnte, sie zu verlieren.
|345| »Warte, Jonathan, leg bitte nicht auf. Wäre es zuviel verlangt, wenn ich dich bitten würde, dir ein Foto anzusehen? Du mußt keinen Namen nennen, mir bloß sagen, ob dieser Kerl derselbe ist, der bei meinem Vater im Krankenhaus war.«
Wieder Stille in der Leitung, diesmal noch länger.
»In Ordnung. Ich schreibe nur ja oder nein.«
»Gib mir deine E-Mail -Adresse, und ich schicke es dir …« Nachdem David die Adresse notiert hatte, machte er eine Pause und fügte dann noch leise hinzu: »Jonathan …«
»Ja?«
»Ich weiß, daß du das im Gedenken an meinen Vater tust. Vielen Dank.«
Mitternacht. In der schmalen Sackgasse war keine Menschenseele zu sehen. David Calderón blickte zum Straßenschild hoch: Calle Roso de Luna. Wie er vermutet hatte, entsprach die Hausnummer, die Gabriel Lazo auf den Zettel geschrieben hatte, dem Palast vor der Casa de la Estanca, dem ehemaligen Sitz des Zentrums für Sephardische Studien. Als Kind war ihm das Gebäude riesig vorgekommen. Doch jetzt war es nichts weiter als ein heruntergekommener Stadtpalast in Form eines H. Wie kam es, daß der Mann dort lebte?
Die Dunkelheit ließ alles noch beunruhigender aussehen. Je weiter David in die Gasse hineinging, um so finsterer wurde sie, so daß er bald kaum noch sah, wo er hintrat, geschweige denn das Ende der Gasse ausmachen konnte. Soweit er sich erinnerte, befand sich die Casa de la Estanca hinter dem Hauptteil des Gebäudes, dem Querbalken des H. Um zu dem alten Wasserturm zu gelangen, mußte man also durch das Hauptportal hindurch. Die Seitenflügel des Palastes umschlossen die Gasse beidseitig, die direkt vor der Hauptfassade endete.
Wie geschaffen für eine Falle, dachte David. Hier gibt es kein Entkommen. Aber ich muß es riskieren.
Die Nacht war schwül. Bis auf das gelegentliche Zirpen der Zikaden war kein Laut zu hören. Die Mauern der Gebäude zu beiden Seiten wirkten bedrohlich. Eine fette Ratte quietschte; |346| beinahe wäre er auf sie getreten. David blieb kurz stehen und atmete tief durch. Dann ging er weiter und versuchte dabei so gut wie möglich den modernden Abfallhaufen,Trümmern und Holzklötzen auszuweichen, gegen die Balken verkantet waren, die die einsturzgefährdeten Häuser stützten. Von den Mauern bröckelte der Putz ab, so daß etliche der vom Regen ausgewaschenen Ziegel zu sehen waren. Es roch penetrant nach Katzenpisse.
Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Schnell drückte er sich in das Dunkel unter einen Türsturz und spähte vorsichtig zum Eingang der Gasse. Es war jedoch niemand zu sehen. Wenn ihm jemand folgte, so hatte er offensichtlich beschlossen, sich nicht zu zeigen. David spitzte die Ohren und lauschte. Doch es war vergeblich, denn im Inneren des Palastes am Ende der Sackgasse hatte ein Hund zu bellen begonnen.
Das Gekläffe wurde immer lauter. Der Hund kratzte nun von innen an dem hohen Portal. David sah sich um und huschte dann zu einer anderen Tür ein paar Meter weiter weg. Aber der Hund bellte weiter.
Im Inneren des Palastes ging jetzt das Licht an. Dann hörte man jemanden trocken husten und sich dem Portal nähern. Geräuschvoll wurden die Riegel zurückgeschoben, und schließlich erschien Gabriel Lazos kräftige Silhouette auf der Schwelle. Mit einer Hand hielt er am Halsband eine große Bulldogge zurück, und in der anderen trug er ein Gewehr mit abgesägtem Lauf.
Mit diesem Kerl ist nicht zu spaßen, dachte David, vielleicht hat ihn jemand aber auch in Alarmbereitschaft versetzt.
Lazo spähte argwöhnisch in die Gasse und schwenkte dabei die Waffe in alle Richtungen. Vom Gebell des Hundes geleitet, dauerte es nicht lange, bis er sein Gewehr auf die Tür anlegte, wo sich der Kryptologe versteckt hatte. David verfluchte seinen Leichtsinn, allein herzukommen, und fragte sich gerade zum x-tenmal, ob es unter diesen Umständen klug war, sich zu erkennen zu geben, als er sah, wie die Bulldogge ihr Herrchen in seine Richtung zerrte.
|347| »Señor Lazo, ich bin es, David Calderón!« schrie er. Doch erst als der andere die Flinte gesenkt und mit einem Ruck am Halsband den Hund zum Schweigen gebracht hatte, trat er aus seinem Versteck und ging auf den Lichtstreifen zu, der aus dem Portal des Palastes auf das Straßenpflaster fiel.
»Tatsächlich, Sie sind es. Kommen Sie, ich habe schon auf Sie gewartet.«
Mit drei großen Schritten hatte David die Treppenstufen
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