Kryptum
Dokumente als zu wertvoll erachtete, um sie sich widerstandslos entreißen zu lassen. Denn darauf war der Eindringling zweifelsohne aus.
Der Agent sagte kein Wort. Das brauchte er auch nicht. Der Lichtkegel der Lampe über ihm glänzte auf der Kamera, die er nun von einer Seite zur anderen schwenkte, um David und Rachel zu bedeuten, daß sie weiter auseinanderrücken und vom Tisch wegtreten sollten. Dann dirigierte er sie – langsam, ganz langsam, die Hände hoch über dem Kopf – hinüber zum Architekten, der links neben dem Tresor stand, um alle drei in der direkten Schußlinie zu haben.
Erst dann zog der Killer eine zerknüllte Plastiktüte aus seiner Westentasche. Mit der freien Hand schüttelte er sie mehrmals heftig, damit sie sich entfaltete, und warf sie dann auf den Tisch. Gebieterisch machte er Maliaño darauf ein unmißverständliches Zeichen, die Pergamentkeile und die Pläne in die Tüte zu packen. Der alte Mann zögerte. Auf seinem Gesicht |476| zeichnete sich der Kummer ab, den das für ihn bedeutete. David fürchtete um das Leben des Architekten. Und um Rachels und sein eigenes. Er suchte Maliaños Blick, um ihm mit einer unmerklichen Kopfbewegung klarzumachen, daß er unter keinen Umständen Widerstand leisten sollte. Der Agent begann ungeduldig zu werden.
David begriff, daß ihnen die Zeit davonlief. Der Architekt schien beschlossen zu haben, passiven Widerstand zu leisten, indem er die Pläne im Zeitlupentempo in die Tüte schob. Sein Instinkt sagte dem Kryptologen jedoch, daß das noch viel, viel gefährlicher war. Wenn dieser athletische Kerl, der sie im Visier hatte, ein Profi war, dann wußte er, daß jede Sekunde zählte. Er würde nicht bereit sein, Zeit zu verlieren. In diesem Keller würde niemand die Schüsse hören.
|477| VIII Das Mittelmeer
Kaum hört Raimundo Randa, daß die Riegel zurückgeschoben werden und der Schlüssel sich im Schloß dreht, eilt er zur Treppe. Er will seinem Kerkermeister in die Augen sehen. Doch Artal de Mendoza weicht seinem Blick aus. Ganz wie der Gefangene vermutet hat, scheint ihm sein Armstumpf an diesem Tag Schmerzen zu bereiten – der Hemmechanismus, der den Druck seiner falschen Hand kontrolliert, quält ihn wohl. Aber keiner von beiden sagt ein Wort. Stumm messen sie sich mit Blicken, bis der Mann mit der Maske brüsk kehrtmacht, Ruth beiseite stößt und die Eisentür mit einem dumpfen Schlag wieder ins Schloß fällt.
Ruth steigt die Stufen zu ihrem Vater hinab, und nachdem sie ihn zu der steinernen Bank in der Mitte des Verlieses geführt hat, kann sie nicht mehr länger an sich halten und fragt ihn rundheraus:
»Warum habt Ihr Euch diesem Mann genähert?«
»Ich muß etwas feststellen«, antwortet Randa.
»Und was?«
»Wie ein bestimmter Mechanismus funktioniert. Das ist notwendig, bevor du mit der Arbeit an demWandteppich beginnst und das Werk deiner Mutter vollendest.«
|478| »Wann soll ich denn das Stück weben, das noch fehlt?«
»Sobald Herrera Juanelo Turrianos Entwurf gefunden hat.«
»Überlaßt das ruhig mir und fahrt mit Eurer Erzählung fort, mit der Mission, die Euch König Philipp aufgetragen hat, nachdem man Euch in der Destillierstube des Escorial überrascht hatte.«
»Wo war ich stehengeblieben? … Ach ja, der Besuch bei meinem Onkel, dem Abt. Von seinem Kloster im Hinterland von Granada aus brach ich nach Fes auf. Ich beherzigte seinen Rat und schloß mich, kaum hatte ich die Grenze zum Königreich Marokko überschritten, einer gut ausgerüsteten und bewaffneten Karawane in Richtung Süden an. Ich hatte meine Goldschmiedewerkzeuge dabei, mit denen ich schon in Tiberias unseren Lebensunterhalt verdient hatte, und konnte so auf Straßen und Märkten meine Dienste anbieten, ohne Verdacht zu erwecken.
Sobald ich jedoch die Stadtmauern von Fes erblickte, wurde mir auf einmal die ganze Schwierigkeit der Mission bewußt, die Philipp II. mir aufgetragen hatte: Dicht an dicht standen die Häuser in dem labyrinthischen Stadtkern, in dem es vor Menschen nur so wimmelte. Es schien ein Ding der Unmöglichkeit, dort irgendeine Spur jener Kodizes zu finden, hinter deren Einbänden sich die fehlenden Seiten der ›Sarazenischen Chronik‹ verbargen. Wie sollte ich mich dort unauffällig nach Schriftstücken erkundigen, in denen genau beschrieben wurde, wo nach der Eroberung Spaniens durch die Mauren der Schatz von Antigua versteckt worden war? Ebensowenig wußte ich, wie ich etwas über ihren Eigentümer, Rubén Cansinos, in
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