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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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gruppiert:
    »Aria ariar isa, vena amiria asaria …«
    »Sie glauben, ich singe?«
    »Na ja, zumindest etwas in der Art«, schaltete sich Doktor Vergara ein.»Es ist natürlich eine tiefere Ebene Ihrer Gehirntätigkeit. Musik gehört zum letzten, was einem Menschen bleibt, wenn andere Kommunikationssysteme geschädigt oder blockiert sind. Sie bekommen vielleicht eine leise Ahnung davon, wie tief diese Ebene liegen muß, wenn ich Ihnen sage, daß die musikalischen Muster direkt auf dem menschlichen Genom basieren.«
    Der Singsang, der aus dem Lautsprecher kam, wiederholte sich immer wieder, klar und in eintönigem Rhythmus.
    »Aria ariar isa, vena amiria asaria.«
    »Eine Möglichkeit gibt es: die Glossolalie«, mischte sich Tavera ein. Da er aber das Gefühl hatte, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, blickte er Vergara an. Der Arzt machte ihm jedoch ein Zeichen, er solle weitersprechen.
    |594| »Glossolalie?« fragte David.
    »Ja. Allgemein auch als ›Zungenrede‹ bekannt. Wenn jemand anfängt, in einer Sprache zu sprechen, die er überhaupt nicht kennt oder nicht zu kennen glaubte. Manche sagen, daß sie vom Heiligen Geist bewirkt werde. Man hat mich schon einmal gerufen, um Aufnahmen davon zu machen. Ich habe gesehen, wie völlig ungebildete Leute in Trance gefallen sind und dann stundenlang in perfekten, rhythmisierten Versen gesprochen oder gesungen haben, und zwar so flüssig und gleichförmig, daß sie es unmöglich einstudiert haben konnten. Es war kein Trick dabei.«
    »Man hat es vor allem bei Frauen beobachtet«, bestätigte Doktor Vergara. »Wenn sie in Trance fallen, wiegen sie sich im Takt und tanzen dazu im Uhrzeigersinn, was zeigt, daß der Antriebsimpuls aus der rechten Hirnhälfte kommt.«
    »Wie auf der Plaza Mayor«, sagte Rachel.
    »Einige der Aufnahmen sind dort gemacht worden«, bestätigte Tavera.
    »Ich meinte nicht nur das«, sagte die junge Frau. »Als Sie vom Tanzen im Uhrzeigersinn sprachen, habe ich mich an den Brauch auf der Plaza Mayor erinnert, am Tag der Schutzpatronin der Stadt, wenn die Frauen im Uhrzeigersinn unter den Arkaden den Platz umrunden, während die Männer dies in entgegengesetzter Richtung
vor
den Arkaden tun.«
    »Ich habe immer geglaubt, daß es etwas von einem Tanz hat«, versicherte Doktor Vergara, »von einem dieser Reigentänze, in denen die Jungen und Mädchen sich in entgegengesetzte Richtungen drehen und dabei Bänder festhalten, die sich so allmählich um einen Stamm in der Mitte wickeln. Der Tanz des Lebens, könnte man sagen, wie die Stränge der DNS, die sich zu einer Doppelspirale verbinden und die Grundlage für die Autoreduplikation bilden.«
    »Die Glossolalie hat auch eine kollektive Dimension«, sagte Tavera. »Sie tritt in dramatischen, sehr intensiven Momenten auf, vornehmlich bei religiösen Zeremonien unter der Leitung eines charismatischen Führers, der eine bestimmte rhythmische |595| Stimmung zu schaffen vermag. Der Rhythmus ist dabei der Schlüssel.«
    »Sagen Sie das wegen der Muster, denen die Stimme meiner Mutter folgte, und des Hintergrundrauschens?« fragte Rachel dazwischen.
    »Nein, ich meine das ganz allgemein. Welche Sprache die Person auch immer spricht und welche Sprache oder Töne sie in Trance dann auch hervorbringt: sie haben immer dieselbe rhythmische Abfolge von betonten und unbetonten Silben. Wissen Sie, woran mich dieser Rhythmus erinnert? An den hier:
Ménin áeíde, theá, Peleíádeó Achiléos

    »Das ist griechisch, nicht wahr?« fragte David.
    »Stimmt. Das ist der erste Vers aus der ›Ilias‹«, bestätigte Tavera. »Die Idee stammt nicht von mir, sondern von Sara. Wie sie mir erzählt hat, hat sie früher einmal mit Julian Jaynes zusammengearbeitet, einem amerikanischen Psychologen und Bewußtseinsforscher, der ein kontrovers diskutiertes Buch geschrieben hat, in dem er die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins zu rekonstruieren versucht. Er untersuchte dazu historische Texte, unter anderem eben auch die ›Ilias‹. Jaynes glaubte nun, daß die Helden in der ›Ilias‹ noch kein Selbst, kein Bewußtsein hatten. Sie haben den Stimmen der Götter gehorcht, die sie in ihren Köpfen hörten. Deshalb beginnt die ›Ilias‹ mit einer Anrufung der Muse:›Den Zorn besinge, o Göttin, des Peleussohns Achilles.‹ Der Rhapsode bietet sich als Medium an, damit durch ihn die Götter sprechen können. Man hat gesagt, die Poesie sei die Stimme der Götter. Oder vielleicht nennen wir so einfach die Stimmen aus

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