Kryptum
konnte sich nicht mehr konzentrieren. Nervös blickte er auf die Uhr und sagte laut zu sich selbst:
»Er müßte längst hier sein.«
Mit dem Finger strich er gedankenverloren über die Bleiruten der großen Fensterflügel und zog das Wappen der Stiftung nach. Die in intensivem Rubinrot gehaltenen Buchstaben A&T hoben sich von dem ockerfarbenen Hintergrund eines Würfels ab, der ein dreidimensionales sechsarmiges Kreuz einrahmte. Er öffnete das Fenster sperrangelweit, um frische Luft hereinzulassen. Nach ein paar Augenblicken, in denen er nur den heißen Asphalt des Parkplatzes gerochen hatte, begann über dem See eine leichte Brise zu wehen, die den Geruch nach frischgemähtem Gras zu ihm trug. Er atmete tief ein.
Dann drehte er sich um und ging zu dem massiven Schreibtisch |68| , den Sara Toledano ihm überlassen hatte. Vor dem alten Fotorahmen blieb er stehen.
Das vergilbte Bild zeigte eine sehr junge Sara auf einem der Balkone über der Plaza Mayor von Antigua. Neben ihr stand Davids Vater, Pedro Calderón. Doch im Grunde standen sie gar nicht beisammen. Abraham Toledano hatte sich zwischen sie gedrängt; mit dem Gebaren eines strengen alten Patriarchen thronte er auf einem Stuhl in der Mitte und blickte grimmig in die Kamera. Durch die offene Balkontür konnte man den jungen Architekten Juan Antonio Ramírez de Maliaño entdecken. Und hinter ihm Peggy, Abrahams Frau, die mürrisch die Arme verschränkt hatte. Trotz ihres vornehmen Äußeren konnte ihre Körperhaltung nicht verbergen, daß sie sich absichtlich im Hintergrund hielt, um nicht gemeinsam mit ihrer Tochter Sara und Pedro Calderón auf dem Foto festgehalten zu werden. Und dann gab es neben ihr noch eine sechste Person von kräftiger Statur, die jedoch nicht zu identifizieren war, da ihr Gesicht im Schatten lag.
Sara war irgendwie seltsam gekleidet. Und Pedro hielt etwas hoch, als sei es eine Trophäe, aber man konnte nicht erkennen, was es wirklich war. Der Balkon war festlich geschmückt. Man schien ein Fest zu feiern, dessen Stimmung vielleicht gerade zu kippen begann, auch wenn die Hauptpersonen noch eine vergnügte Miene zur Schau trugen, die ihnen ihre strahlende Jugend verlieh.
Als David Calderón sich jetzt über den Tisch beugte, um ein Detail auf der Fotografie näher zu studieren, entdeckte er auf einmal sein eigenes Spiegelbild im Glas. Einmal mehr bemerkte er, wie ähnlich er Pedro war. Er mußte nun ungefähr so alt sein wie sein Vater damals, und sein Gesicht zeigte unter dem lockigen schwarzen Haar den gleichen arglosen und schüchternen Ausdruck. Der aufgeweckte Blick war identisch und wohl Frucht einer grenzenlosen, geradezu kindlichen Neugier, wenn in seinen Augen, die er ebenfalls von seinem Vater geerbt hatte, auch ein Anflug von Traurigkeit, von Fatalismus wahrzunehmen war. Der feste, klar gezeichnete Mund |69| ließ auf sein Streben nach Unabhängigkeit schließen, auf seinen Eigensinn, der ihm, zusammen mit seinem Mißtrauen gegenüber gesellschaftlichen Konventionen, bereits viele Probleme eingebracht hatte.
David Calderón fragte sich, wie viele Jahre Sara Toledano wohl schon in diesem Büro arbeitete, mit diesem Foto auf dem Tisch. Am heutigen Tag rührte ihn dieses Detail mehr denn je. Daß sie das Foto hiergelassen hatte, als sie nach Antigua abgereist war, kam einer regelrechten Grundsatzerklärung gleich und war zur deutlichsten Botschaft bezüglich der schwierigen Aufgabe geworden, die sie ihm übertragen hatte. Es verriet, wieviel Pedro ihr bedeutet haben mußte. Zumindest damals, als sich noch neue Welten vor den beiden jungen Leuten auftaten, damals, bevor die Zeit gegen sie zu arbeiten begann und all ihre Hoffnungen zugrunde richtete.
Es war ihr sicher nicht leichtgefallen, sich im Allerheiligsten der Familie Toledano zu dieser Beziehung zu bekennen. Und ihren Posten mit ihm, Pedros einzigem Sohn, zu besetzen, während sie mit einer Mission nach Spanien reiste, die für sie lebenswichtig schien. Ihr Abschied hatte Davids Eindruck noch verstärkt, daß es dieses Mal anders sein würde als sonst. Und alles, was danach geschehen war, hatte diese Vermutung bestätigt.
Gerade wollte er sich wieder an die Arbeit setzen, da klopfte es an der Tür.
Na endlich! dachte er, bevor er mit lauter Stimme »Herein!« rief.
Er drehte sich genau zur rechten Zeit um, um zu sehen, wie der Geschäftsführer der Stiftung, Anthony Carter, den Kopf zur Tür hereinsteckte. Seine randlose Brille, die Fliege und der tadellos
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