Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
waren.
Wer den Weg über die Brücke nicht wählen wollte oder dazu gezwungen war, diesen zu meiden, musste sich zwangsläufig aufs Schwimmen verlassen. Das hatte gleich mehrere Nachteile. Kaum ein Gegner vermochte die Distanz bis zum inneren Wall bewaffnet und in voller Rüstung zurückzulegen. Das Wasser war eiskalt, was die einhundertfünfzig Fuß, schwimmend zurückgelegt, schnell zu einer einzigen Tortur werden ließ. An der glatt geschliffenen Außenwand des inneren Walles gab es darüber hinaus kaum eine Möglichkeit, aus dem Wasser hochzuklettern. Zu allem Überfluss wurde der Graben zahlreich von allerlei gefräßigen Raubfischen bevölkert, die von den Bewahrern zwar regelmäßig ein wenig gefüttert, aber bewusst stets hungrig gehalten wurden. Auf diese Weise erfüllte der Graben seinen einzigen Zweck. Welcher Eroberer auch immer bis an diese Stelle vorgedrungen war, ohne bis dahin zu erfrieren oder zu ertrinken, wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit von den großen Raubfischen, einer kleineren, im Süßwasser heimischen Art der gefürchteten Moldawars, gefressen. Der Sprung ins kalte Nass des Burggrabens wollte vorher gut überlegt sein.
Madhrab hatte sich zeit seines Lebens immer gefragt, warum die Anlagen der Orna und der Bewahrer auf solch massive Weise gesichert waren. Seit Gründung der Orden hatte es keinen einzigen Versuch gegeben, die Häuser des hohen Vaters und der heiligen Mutter zu erobern. Er konnte sich deshalb nicht entscheiden, ob es in erster Linie dem Zweck diente, einen Feind von außen vor einem Eindringen abzuhalten, oder aber vielmehr das Ziel hatte, einem Insassen die Flucht unmöglich zu machen. Immerhin befand sich in den innersten Bereichen der Anlagen auf der Seite der Bewahrer das wohl sicherste und größte Gefängnis des Kontinents Ell. Die unterirdischen Kerkeranlangen waren berüchtigt und gefürchtet. Nur die schweren Verbrechen, die zu einer lebenslangen Haftstrafe führten, wurden mit einer Bestrafung in den Verliesen des hohen Vaters geahndet. Die übelsten Täter wurden meist zu einem Schicksal in der Grube verurteilt, die sich ebenfalls auf dem Gelände der Bewahrer unterhalb der Kerkeranlagen befand. Dies kam einem Todesurteil gleich. Noch nie war ein Verurteilter aus der Grube lebend zurückgekehrt.
Die inneren Anlagen waren exakt in der Mitte durch eine gerade durchgezogene Mauer getrennt, sodass sich für Orna und Bewahrer in etwa gleich große Flächen ergaben. Die Häuser selbst unterschieden sich deutlich. Während das Haus des hohen Vaters aus der Entfernung betrachtet nüchtern wirkte, ein großer anthrazitfarbener Steinquader, der sich über mehrere Stockwerke erstreckte, war das Haus der heiligen Mutter aus sandfarbenem Stein mit einem leichten honigfarbenen Stich kunstvoll gemauert, wies zahlreiche Erker, Rundungen, Ausbuchtungen, Türme und allerlei in den Stein gehauene Blumenverzierungen auf. Dadurch wirkte das Stammhaus der Orna freundlicher und strahlte eine weitaus harmonischere Atmosphäre aus als die rein zweckmäßig ausgerichteten, asketisch wirkenden Gebäude der Bewahrer. Böswillige Betrachter nannten die Festung der Bewahrer düster und trostlos. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, sie stünden in deutlichem Gegensatz zum Namen des Ordens der Sonnenreiter, der immerhin eine direkte Verbindung zur Wärme und zum Licht darstellte.
Vor dem Hauptgebäude, zu dessen hoch gelegenem Eingang eine steile und breite Steintreppe mit genau einhundert grob gehauenen Stufen führte, war ein größerer Platz mit einem schlangenförmigen Muster aus helleren und dunkleren Steinen gepflastert worden. Dies war der Versammlungsplatz der Sonnenreiter und Bewahrer für Kundgebungen und groß angelegte Zeremonien. Die Ränder des Platzes zierten auf hohen Stützen stehende Steinschalen, in denen bei Bedarf Feuer angezündet wurden.
Die Waffenübungsplätze der Bewahrer schlossen sich unmittelbar an den Versammlungsplatz vor dem Hauptgebäude an und zogen sich in mehreren nebeneinander angeordneten Arenen, meist mit niedrigen Zuschauerrängen ausgestattet, bis zu der die Bereiche der Bewahrer und Orna abgrenzenden Mauer. Hinter den Übungsplätzen befanden sich die Kasernen der einfachen Sonnenreiter und der ranghöheren Kaptane. In nördlicher Richtung waren die großzügigen Stallungen für Vieh und Pferde gebaut worden. Gemeinsam benutzten Sonnenreiter und Orna die Stallungen im Haus des hohen Vaters. Aufgrund ihrer großen Erfahrung im Umgang mit den
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