Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
entscheiden, Solras. Jeden Tag bis zur Geburt habt Ihr noch Gelegenheit. Das Kind wird leben. Ihr dürft leben und Euch frei bewegen, wenn Ihr Euch für das Kind entscheidet. Solltet Ihr allerdings für Euch und das Kind die Schatten wählen, müssten wir Euch womöglich einsperren und Ihr werdet bei der Geburt sterben oder …«
»Ihr seid unglaublich grausam«, meinte Solras, »ich hätte es mir denken sollen. Nicht ich bin es, die euch wichtig ist. Einzig und allein die verfluchte Frucht in meinem Körper ist es, die ihr haben wollt. Ihr mästet, pflegt und beschützt mich auf Schritt und Tritt und manchmal erheitert ihr sogar meine Sinne. Nur damit ich die Brut austrage, die Kryson verändern soll. Das Kind aus Gewalt und Hass. Einen verdammten Lesvaraq.«
»Ich bin schrecklich, fürwahr«, sagte Metaha, »es wäre nicht das erste Mal, dass ich ein solches Opfer für eine höhere und wichtigere Sache bringen müsste. Führt mich also nicht in Versuchung. Ich bitte Euch, Solras. Werdet vernünftig und lasst uns das gemeinsam durchstehen.«
Metaha streckte die Hand aus in der Hoffnung, Solras nähme die wohlgemeinte Geste an.
Es mochten mehrere Horas vergangen sein, in denen sie sich einfach nur gegenüberstanden. Die Sonnen waren längst untergegangen und die Nacht war über die Siedlung hereingebrochen. Es wurde frostig auf der Terrasse des Rathauses. Belrod hatte sich auf den Boden gekauert, eine Wolldecke um die breiten Schultern gelegt. Er wartete.
Die weise Naiki regte sich nicht und hielt ihre Hand nach wie vor hin. Die junge Frau musste nur zugreifen. Solras starrte in die blinden Augen der alten Hexe, gerade so, als wollte sie ein unverständliches Rätsel in dem milchigen Schimmer ergründen, der im Licht des Mondes silbrig glänzte. Langsam bewegte Solras ihre Hand. Zoll für Zoll. Sie berührte die kalten Finger der alten Frau und griff schließlich fest zu. Metaha zog sie im nächsten Moment dicht an sich heran und legte die Arme schützend um sie.
»Helft mir«, flüsterte Solras verzweifelt, »ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, bitte helft mir.«
»Habt keine Angst«, antwortete Metaha und strich ihr dabei behutsam über die Haare, »ich bin bei Euch und werde Euch helfen, mein Kind. Alles wird gut.«
Solras weinte Tränen der Verzweiflung. Sie zitterte am ganzen Körper und schüttelte sich vor Gram. Die Trauer in ihrem Herzen bahnte sich einen Weg nach draußen. Dämme brachen mit einem Mal und entfesselten Fluten. Metaha stand wie ein Fels in der Brandung. Sie blieb eisern und hielt das Elend fest in ihren Armen umschlungen. Sie gab ihr in dieser Nacht Halt und Wärme. Solras ließ es einfach geschehen, denn sie war der einzige Trost, den die junge Klanfrau noch finden konnte. Metahas Kleidung war nass von den salzigen Tränen. Doch das war ihr gleichgültig. Sie hatte vor, diesem armen, verzweifelten Wesen den Schmerz zu nehmen.
Sie blieben die ganze Nacht durch bis zum Sonnenaufgang auf der Terrasse des Rathauses. Solras hatte längst keine Tränen mehr in ihren Augen, die sie hätte vergießen können. Bis zur Morgendämmerung hatte sie all ihr Leid über Metaha ausgeleert. Schließlich wurde Solras ruhiger. Die Weinkrämpfe ebbten ab.
Metaha nahm das Gesicht der Klanfrau fest in ihre Hände und drückte die Stirn gegen die ihre. Sie begann, was sie im Grunde immer hatte vermeiden wollen. Doch nun sah sie keinen anderen Weg mehr, das Leben des Lesvaraq zu retten. Sie musste den Schmerz und die schwere Last von Solras auf sich nehmen, um ihr Leiden ein für alle Mal zu beenden. Solras würde nicht mehr dieselbe sein, wenn sie ihr Gedächtnis unwiederbringlich gelöscht hatte.
Bilder des Grauens und der Demütigung fluteten über Metahas Hände und Stirn in ihren Körper und wüteten durch ihre Gedanken.
Solras wurde plötzlich leicht ums Herz. Sie vergaß, wer sie war. Stück für Stück schwanden die bösen Träume, die Erinnerungen verblassten und die Trauer versiegte. Die Kindheit war in einem einzigen Augenblick entrissen, die Jugend vollkommen ausgelöscht. Zyagral geriet in Vergessenheit. Die Rachuren kannte sie nicht mehr. Die Naiki waren ihr fremd. Sie war nicht in der Lage zu sprechen. Selbst das Laufen und Essen hatte sie mit einem Mal verlernt. Nur das Atmen ging von alleine. Sie sank auf die Knie und brabbelte unverständliche Worte. Ihr Kopf war leer, ihr Gedächtnis entschwunden.
Lediglich Metaha bewahrte ihre Erinnerungen in ihren eigenen Gedanken für sie auf.
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