Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
du nicht mehr zurückkehren kannst, wenn du dem Orden auf diese Weise den Rücken kehrst?«
Die alte Orna ließ sich nicht täuschen. Sie kam Elischa in dieser Hinsicht noch schlimmer vor als die heilige Mutter.
»Nein, ich ...«, setzte Elischa an.
»Pass auf dich und das Kind, das du in dir trägst, gut auf, Elischa«, unterbrach Ayale sie mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen, »ich werde dich nicht aufhalten.«
»Woher weißt du ...?«, fragte Elischa und vergaß vor lauter Verblüffung, ihren Mund wieder zu schließen.
Ayale kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Ich bin eine Orna und dazu noch eine alte Ordensschwester. Du bist jung und schön, aber leider auch in mancherlei Dingen unerfahren. Trotz all der Regeln, Elischa, gibt es doch hin und wieder Dinge, die wir Orna lieber nicht aussprechen. Wir denken uns unseren Teil. Glaubst du, du wärst die erste unserer Schwestern, der dieses Schicksal widerfährt?«
»Willst du damit sagen ...?«
»Genau ...«, Ayale ließ Elischa nicht ausreden, »... das möchte ich. Wir Orna sind Wesen aus Fleisch und Blut. Wir sind starke Frauen und wir leben. Bei all den Verpflichtungen und der Verantwortung, die wir für das Erbe Ulljans und die Wahrung des Gleichgewichtes tragen, haben wir Gefühle und erfahren Leidenschaften, gegen die wir uns nicht wehren können, womöglich gar nicht widerstehen wollen. Die Konsequenz dieser Einstellung ist in einigen Fällen eine Mutterschaft. Es kommt nicht darauf an, ob sie gewollt ist oder nicht. Sie passiert einfach. Die Kinder werden beseitigt, wenn sie gefunden werden, und die Strafen für die jungen Mütter sind hart und schrecken viele ab. Einige unter uns besitzen jedoch ein Herz und einen Geist, der sich nicht unterdrücken lässt. Ihn schrecken die Strafen nicht. Er tut, was er will. Du weißt, dass dein Geist besonders stark und eigenwillig ist und du das Schicksal herausgefordert hast, nicht wahr?«
Elischa nickte und ließ den Blick beschämt auf ihren Füßen haften.
»Ich musste dir das sagen, denn das Kind in deinem Leib ist nicht irgendein Kind. Es ist ein Lesvaraq. Die alten Prophezeiungen werden wahr. Ich spüre seine Präsenz seit deiner Rückkehr mit jedem Tag mehr. Ich wunderte mich anfangs, dass die heilige Mutter deinen Zustand anscheinend nicht bemerkte. Bis sie brutal ermordet wurde, da wusste ich, dass sie es wusste und dich schützen wollte. Ihr Mörder ist mit einem für dich gefährlichen Wissen ausgestattet und hat es vor allem auf das Kind abgesehen. Ich vermute, dass er Magie einsetzt. Du musst das Haus unbedingt verlassen.«
»Du meinst, der Mord an der heiligen Mutter hat nichts mit Lordmaster Kaysahans Gang zu den Schatten zu tun?«, fragte Elischa.
»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Ayale. »Kaysahan wurde ermordet, um den Vater Eures Kindes zu beseitigen oder ihn zumindest im Kerker festzuhalten. Es ist ein dunkles Spiel. Undurchsichtig noch dazu. Es gibt viele Spieler, die sich einen Gewinn erhoffen. Vielleicht ist es das Spiel des dunklen Hirten. Lordmaster Madhrab wird nicht nur geschätzt, Elischa. Er war und ist vielen Klan seiner Macht wegen ein Dorn im Auge. Madhrab wird mancherorts gefürchtet. Du könntest dir allerdings keinen besseren Beschützer für dich und den jungen Lesvaraq wählen. Der Lesvaraq wird sehr mächtig sein und über die Möglichkeiten verfügen, Kryson nachhaltig zu verändern. Zum Guten oder zum Schlechten. Niemand weiß, welche Richtung er einschlagen wird. Auch das ist nicht von allen erwünscht. Wir fürchten uns vor Veränderungen, die wir nicht begreifen können. Vielleicht bedeuten sie unseren Tod. Schütze das Kind, so gut du es vermagst. Du und der Lesvaraq habt viele Feinde. Sie werden euch verfolgen. Geh mit den Kojos, Elischa. Ich wünsche dir Glück.«
Elischa umarmte die alte Orna und gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Gemeinsam öffneten sie die schwere Tür einen Spaltbreit und Elischa schlüpfte hinaus in die eisige Kälte der Nacht.
An der inneren Mauer zu den Anlagen der Sonnenreiter wartete Kaptan Brairac ungeduldig auf die Orna. Er sah sich immer wieder um, ob sie nicht beobachtet wurden.
»Wo ist Madhrab?«, flüsterte Elischa, als sie den Kaptan der Sonnenreiter erreicht hatte.
»Nicht hier!«, antwortete Brairac stimmlos. »Das Licht des Hauses vermag unser Treffen neugierigen Blicken zu verraten. Wenigstens hat der Junge Euch die Nachricht übermittelt.«
Brairac zog sie weiter in den Schatten.
Weitere Kostenlose Bücher