Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
hinter jeder Ecke vermutete sie Gefahr für das Leben ihres Kindes und ihr eigenes Wohl. Die Angst begann sie aufzufressen. Elischa hatte in den letzten Monden Neid, Ablehnung und Ausgrenzung im Haus erfahren. Vielleicht lag es daran, dass sie sich selbst verändert hatte.
Habe ich je wirklich zu ihnen gehört?, fragte sie sich. Ich bin anders als meine Schwestern. Die heilige Mutter wusste das, seit sie das Kind am Rande des Faraghad-Waldes gefunden und mit in das Haus der Orna genommen hatte. Aber sie hatte nie einen Unterschied gemacht und immer versucht, Elischa im Geiste des Ordens und im gleichen Sinne wie die übrigen Orna aufzuziehen und auszubilden. Das gelehrige Mädchen hatte ihr in all den Sonnenwenden viel Freude bereitet. Sie lernte schneller und besaß Talente, die den anderen Mädchen stets verschlossen blieben. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Der Feldzug der Rachuren hatte die Klanlande in eine tiefe Not gestürzt. Elischa hatte zu viel Gewalt und Elend gesehen, um sich nun hinter den Mauern des Hauses zu verstecken. Überall im Land lauerten Hunger, Seuchen und Tod. Das Ordenshaus war in seiner eigenen abgeschotteten Welt davon kaum betroffen. Die Orna und die Bewahrer konnten sich von jeher unabhängig von der Außenwelt selbst versorgen. Aber Elischa wollte so nicht weiterleben, nicht mehr. Das Kind würde keinen Platz im Haus der heiligen Mutter haben. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu ihrem eigenen Schutz endgültig zu verabschieden und mit dem Orden abzuschließen.
Hastig packte sie ihre Sachen zusammen und zog ihre wärmste Kleidung an. Wo bleibt Madhrab nur?, fragte sie sich, nachdem sie fertig gepackt und ihre von Nervosität geprägte Reise durch die Kammer wieder aufgenommen hatte.
Elischa kannte Madhrab schon lange und sie hatte immer nur ihn gewollt. Seit ihrer Kindheit hatte sich dieser Wunsch in ihr festgesetzt. In ihrer Vorstellung war er stets derjenige gewesen, der den Eid des Bewahrers eines Tages für sie ablegen sollte. Es waren die Gefühle eines jungen Mädchens, die sich von denen der erwachsenen Elischa deutlich unterschieden. Sie waren in jenen Jugendtagen geprägt von der Erziehung zu einer Orna. Nie hätte sie damals angenommen, dass sich aus der Schwärmerei ihrer Kindheit und Jugend eine Liebe entwickeln würde, die an Stärke und Intensität nicht zu übertreffen war. Ihre Entsendung durch die heilige Mutter und die persönliche Begegnung vor der Schlacht waren Schicksal gewesen. Elischa wusste, dass das Schicksal unabänderlich war. Sie mussten sich finden, denn ihre Seelen waren bis in alle Ewigkeit miteinander verbunden.
Immer wieder lugte Elischa vorsichtig aus dem Fenster, ob sich dort unten zwischen den Mauern und dem Haus der heiligen Mutter nicht etwas bewegte. Sie ließ ihren Blick über die Mauern auf die Übungsplätze der Bewahrer schweifen.
Endlich, dachte sie. Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung. Auf der anderen Seite der Mauer stand einsam ein Sonnenreiter mit einem Holzbein und winkte ihr zu.
Das ist nicht Madhrab. Brairac, es ist Kaptan Brairac, war ihr erster Gedanke, der ihr eine leichte Enttäuschung bescherte. Madhrab wird doch nichts zugestoßen sein?
Elischa lehnte sich ein Stück aus dem Fenster und zeigte Brairac, dass sie ihn gesehen hatte. Der Kaptan deutete ihr durch Handzeichen an, sie solle herunterkommen und das Haus verlassen. Das Bündel mit ihren Sachen samt ihrem Kampfstab schulternd öffnete Elischa vorsichtig die Tür und verließ die Kammer auf Zehenspitzen. Ich werde nicht zurückkommen, sagte sie sich leise.
Der Weg durch den Flur an den Kammern ihrer Ordensschwestern vorbei bis zur Treppe kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor. Glücklicherweise schliefen die meisten Orna um diese Zeit. Die Schülerinnen hatten ihre Gemeinschaftsschlafsäle im Erdgeschoss des Gebäudes. Sie schlich die Treppe hinunter und hatte das Hauptportal des Hauses bereits erreicht, als ein Räuspern und eine Stimme Elischa zusammenzucken ließen.
»Wohin gehst du zu so später Hora, Elischa?«, fragte Ayale.
»Ach ... ich konnte nicht schlafen und wollte nur ein wenig frische Luft schnappen. In meiner Kammer wurde es mir zu stickig«, antwortete Elischa aufgeregt.
Ayale trat aus dem Schatten eines Flures zu ihr und musterte Elischa mit neugierigen Augen. »Nun, du siehst nicht danach aus, als ob du nur einen kleinen Spaziergang durch die Gärten machen wolltest«, meinte sie. »Du willst uns verlassen. Ist dir bewusst, dass
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