Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
Vorstellung nicht einmal annähernd in Erwägung zogen. Ein völlig absurder Gedanke, der in keinem Fall als Möglichkeit infrage kam.
Sie denken, ich werde fett. Das gefällt ihnen, sagte sich Elischa.
Ein leises Geräusch am Fenster ihrer Zelle ließ Elischa aus ihren Gedanken aufschrecken. Es kam ihr vor, als werfe jemand kleine Steine dagegen. Sie stand auf und ging hinüber. In der Dunkelheit konnte sie nur wenig erkennen, doch da war das Geräusch wieder und sie sah die Steinchen gegen das Fenster prasseln. Rasch öffnete Elischa das Fenster und blickte hinaus. In den Schatten der Mauer sah sie schemenhaft und geduckt eine kleine, hagere Gestalt stehen, die angestrengt zu ihr heraufsah. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Leichtfüßig wie eine Katze bewegte sich die Gestalt von der Mauer weg, geradewegs auf das Haus der heiligen Mutter zu und begann sofort geschickt die Hauswand heraufzuklettern. Es war unschwer zu erkennen, welches Ziel das Wesen verfolgte. Offensichtlich fand der Kletterer genügend Halt zwischen den einzelnen Mauersteinen und den zahlreichen Ornamenten, um nicht abzurutschen und wieder hinunterzufallen. Geräuschlos erreichte der nächtliche Besucher den Fenstersims vor Elischas Kammer. Der Kletterer entpuppte sich als ein verwahrloster Junge, den die Orna noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Sie fragte sich, was er von ihr wollte. Er ging ein hohes Risiko ein, sollte er bei seiner waghalsigen Kletterei erwischt werden.
»Wer bist du?«, flüsterte Elischa.
»Ich heiße Madsick«, antwortete der Junge leise.
»Und was willst du?«, fragte Elischa weiter.
»Madhrab schickt mich. Ihr sollt Euch bereithalten. Der Lordmaster konnte aus dem Kerker entfliehen und trug mir auf, Euch zu sagen, dass er Euch mitnehmen wird«, erklärte Madsick seinen Auftrag.
»Guter Junge«, Elischa war fassungslos vor Freude und umarmte den Jungen. Sie drückte Madsick so fest, dass er leise aufstöhnte. »Wann wird Madhrab kommen?«
»Haltet einfach Ausschau«, sagte Madsick, »es kann nicht mehr lange dauern. Ich sah, wie die Sonnenreiter bereits Pferde aus den Ställen geführt haben.«
»Madsick, du bist das größte Glück, das mir in den letzten Monden begegnet ist. Weißt du das? Ich danke dir für diese wundervolle Botschaft. Warte einen Augenblick«, sagte Elischa.
Sie entfernte sich vom Fenster und durchsuchte mit fliegenden Fingern ihre Sachen. Nach einer Weile kehrte sie zurück und reichte Madsick eine kleine Holzkiste und eine mit einer durchscheinenden Flüssigkeit gefüllte Phiole.
»Hier, das ist für dich und deinen Mut, mich aufzusuchen«, sagte Elischa und überreichte ihm die Geschenke. »In der Holzkiste befinden sich ein Glücksbringer und sehr wertvolle und seltene Kräuter. Einige davon haben eine starke heilende Wirkung. Trage den Glücksbringer stets um den Hals und er wird dich auf all deinen Wegen beschützen. Er spendet Licht in der Dunkelheit, wenn du ihn zwischen den Fingern reibst. In der Phiole befindet sich ein Heilmittel gegen die Geißel der Schatten. Nimm davon jeden Tag einen Tropfen zu dir, bis die Flüssigkeit aufgebraucht ist, dann wird dich die Seuche weder heute noch in Zukunft ereilen. Geh jetzt und klettere schnell zurück, bevor sie dich entdecken. Die Kojos mögen dich schützen.«
Madsick bedankte sich mit einem Lächeln und kletterte die Hauswand flink wieder hinab. Elischa blickte dem Jungen nach, verlor ihn aber schon bald aus den Augen.
Er ist wie ein Geist. War er denn Wirklichkeit oder nur ein Traum?, dachte sie erschrocken. Bald schon würde sich zeigen, ob der Junge am Fenster nur ein flüchtiges nächtliches Werk ihrer Einbildungskraft war oder ob sich die frohe Botschaft des Geistes bewahrheiten sollte. Spätestens wenn Madhrab auftauchte, würde sich der Traum für Elischa erfüllen. Das hoffte sie jedenfalls.
Unruhig lief die Orna in ihrer Kammer hin und her. Viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Das Haus der heiligen Mutter war für lange Zeit ihr Zuhause gewesen. Sie hatte sich unter ihren Ordensschwestern stets sicher und geborgen gefühlt. Doch seit der Schlacht am Rayhin und ihrer Rückkehr hatte sich vieles verändert. Die heilige Mutter war ermordet worden. Die einst als angenehm empfundene Sicherheit war verschwunden und die innere Ruhe des Hauses, die ihr stets Kraft gegeben hatte, war dahin. Elischa fühlte sich beobachtet und fürchtete sich, mit ihren Ordensschwestern zu reden und entdeckt zu werden. In den Fluren und
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