Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
wen sie vor sich hatte. Der Sonnenreiter war Madhrab. Ihre Knie begannen zu zittern und drohten nachzugeben. Sie musste sich an der Flanke ihres Pferdes festhalten, um nicht in den Schnee zu stürzen.
Madhrab war mit ihnen aus dem Haus des hohen Vaters geflohen und die ganze Zeit bei ihr gewesen. Die Orna hatte ihn nicht erkannt und schämte sich, dass sie ihn überhaupt des Brudermordes verdächtigt hatte. Sie konnte es kaum begreifen, seine unmittelbare Nähe hatte sie während der ganzen Flucht nicht gespürt. Aus der Erstarrung erwacht stapfte sie mit großen Schritten durch den Schnee und umarmte ihn. Sie musste ihn halten, so fest sie nur konnte. Das Versteckspiel hatte ein Ende. Es war ihr gleichgültig, was die Sonnenreiter dachten. Seine Nähe, die Wärme des Körpers fühlte sich unvergleichlich gut an. Sie konnte seinen Herzschlag hören, als sie den Kopf an seine Brust schmiegte. Der gleichmäßige Rhythmus seines Herzens beruhigte sie. Eine Träne löste sich aus ihrem Auge und rann ihr heiß die Wange hinab.
»Du hast dich verändert, Elischa«, sagte Madhrab, während er sie ein Stück von sich weghielt und ihr in die Augen sah, »äußerlich, meine ich. Du erwartest ein Kind, nicht wahr?«
»Unser Kind«, nickte sie bejahend.
»Das ist gut ... und gefährlich«, stellte Madhrab fest, »ich werde dich und das Kind in Sicherheit bringen.«
»Ich will ungern euer Wiedersehen verderben«, unterbrach sie Brairac, »aber wir Sonnenreiter werden an dieser Stelle umkehren und zu unseren Häusern zurückreiten. Ihr seid nun auf euch alleine gestellt. Verweilt nicht zu lange an diesem Ort. Der Vorsprung wird nicht allzu groß sein. Ich wünsche euch Glück auf eurem weiteren Weg.«
»Danke, mein Freund«, antwortete Madhrab. »Bis hierher und nicht weiter. So hatten wir es vereinbart. Ihr habt uns gerettet. Es wird gewiss nicht leicht für euch sein, den Ausritt zu erklären, sobald ihr zurückkehrt. Ich schulde euch mein Leben und will nicht, dass ihr unseretwegen Schwierigkeiten bekommt und am Ende an meiner Stelle in der Grube landet.«
»Lasst das getrost meine Sorge sein, Madhrab«, meinte Brairac gelassen, »wir werden uns eine gute und überzeugende Geschichte ausdenken.«
»Ich will hoffen, dass euch das gelingt«, antwortete Madhrab. »Ich habe meine Erfahrungen mit überzeugenden Geschichten in den vergangenen Monden gemacht. Eines ist mir jedenfalls deutlich geworden: Es gibt keine Wahrheit.«
»Doch, Madhrab«, berichtigte Brairac seinen Freund, »es gibt sie. Nur ist es manchmal schwer, sie als solche zu erkennen und anzunehmen. Die Wahrheit einer Folter ist der Schmerz und die Pein. Nicht mehr und nicht weniger. Wir werden versuchen, die Intrige gegen Euch als solche zu entlarven und Beweise für Eure Unschuld zu finden.«
»Das ist gefährlich, Brairac«, warnte Madhrab. »Seid vorsichtig mit dem Versuch. Es wäre möglich, dass Ihr mit Euren Fragen und Nachforschungen auf heftigen Widerstand stoßt. Unsere Gegner sind mächtig, das habe ich am eigenen Leib zu spüren bekommen. Wartet, bis ich wiederkomme.«
»Ihr wollt nach alledem in das Haus des hohen Vaters zurückkehren?«, Brairac zog überrascht die Augenbrauen nach oben.
»Das werde ich, ja. Ich nehme die Herausforderung an und bringe sie auf meine Art zu Ende. Ich habe keine andere Wahl und werde auf Dauer kein Leben auf der Flucht führen.«
»Das hatte ich befürchtet, Madhrab. Dann werden wir uns bald wiedersehen. Ihr könnt auf mich und die mir getreuen Sonnenreiter zählen.«
»Das weiß ich. Reitet nun und sputet Euch. Unser Dank sei Euch und den Sonnenreitern gewiss. Elischa und ich werden uns auf den Weg nach Kalayan zum Choquai-Pass machen.«
»Eines noch, bevor wir auseinandergehen«, sagte Brairac. »Während wir das Haus des hohen Vaters verließen, wurden wir verfolgt. Ich konnte mich dieses Eindrucks nicht erwehren. Es ist aber nicht mehr als ein ungutes Gefühl. Etwas Genaues gab es nicht zu erkennen. Nur einen Schatten vielleicht. Aber jemand muss die Sonnenreiterin am äußeren Tor getötet haben.«
»Aye, Brairac. Das war gut beobachtet. Wir werden uns darauf einstellen. Danke. Lebt wohl, mein Freund.«
Brairac hatte die Gestalt also ebenfalls wahrgenommen. Das beruhigte Elischa einerseits, denn sie hatte schon befürchtet, alles nur geträumt zu haben. Andererseits war die Vorstellung über den unbekannten Verfolger erschreckend. Mehr als das. Er hatte kaltblütig getötet und seine Motive lagen im
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