Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
unmittelbar hinter ihnen donnernd ins Tal gestürzt war und einen Sog entwickelt hatte, der sie von den Beinen riss. Sie klammerten sich wie Ertrinkende an die kargen Felsen, bis ihre Finger bluteten. In den Höhen des Passes waren sie nur quälend langsam vorangekommen. Die Luft war dünn. Neben Schwindel und Atemnot verursachte die Höhe bei Elischa Albträume und Visionen, die eine Zeit der Dämmerung, den Sieg der Dunkelheit und die Zerstörung Ells zeigten. Der starke Wind hätte sie um ein Haar von den Höhengraten des Passes in die Tiefe gerissen. Sie wären verloren gewesen, niemand hätte sie je gefunden, zerschmettert an den Felsen des Choquai oder verschwunden in einer der zahlreichen Gletscherspalten.
Elischa war erschöpft und es war ihr deutlich anzusehen. Die Entbehrungen während der Flucht, begleitet von der ständigen Angst, gefasst zu werden, steckten in ihren Knochen. Müde hob sie die Augenlider und wollte die Freude des Lordmasters teilen. Die von den Sonnenstrahlen in allen Farben des Regenbogens reflektierten Lichter des Eispalastes nahm sie zwar wahr, und doch gelang es ihr nicht, sich wie Madhrab über das erreichte Ziel zu freuen. Zu viele Fragen gingen ihr durch den Kopf, zu viel war und blieb ungeklärt.
Befanden sie sich wirklich in Sicherheit? Wie würden sie im Fürstenhaus Alchovi aufgenommen werden? Waren sie im Eispalast überhaupt willkommen? Und was würde nach der Geburt ihres Kindes geschehen? Konnten, ja durften sie es behalten? Was, wenn Madhrab zurück in das Haus des hohen Vaters ging, um Vergeltung zu üben und die Ereignisse vor und während der Schlacht geradezurücken? Was würde dann aus ihr werden? Sie hatte ihre Bestimmung nicht erfüllt und einen Bewahrer versetzt. Würde sie für diesen Regelverstoß bestraft werden? Warum musste sie immerzu über all diese Dinge nachdenken? Konnte sie sich nicht einfach von ihren Gedanken befreien und sich an dem wunderbaren Anblick der Stadt aus Eis und Schnee erfreuen?
Fragen über Fragen, auf die sie keine Antworten wusste. Noch nicht. Doch welche Alternative hatte sie? Ihr fiel keine ein. Sie musste sich auf ihr Glück verlassen und darauf hoffen, dass sich Corusal Alchovi an die Freundschaft zu Madhrab erinnerte.
Der restliche Weg in die Stadt war rasch zurückgelegt. Die Aussicht, den alten Freund hoffentlich bald sprechen zu können, beflügelte Madhrab. Vielleicht lag sogar die einzige Möglichkeit, sich gegen die Vorwürfe angemessen zu verteidigen und seinen Ruf als Bewahrer und Lordmaster wieder vollständig herzustellen, in Corusals Fürsprache? Der Fürst war mächtig und stark genug, den Rat der Fürsten einzuberufen. Sein Wort hatte Gewicht und wurde gehört. Sollte es Fürst Alchovi gelingen, die anderen Fürsten zu überzeugen und Madhrab von der Anklage freizusprechen, würde niemand in den Klanlanden es wagen, diese Entscheidung ernsthaft anzuzweifeln. Weder der Regent noch die Bewahrer erlaubten sich, die Beschlüsse des Fürstenrates aufzuheben, für ungültig oder falsch zu erklären oder gar ihr eigenes Urteil an die Stelle der Fürstenratsentscheidung zu setzen. Zum Wohle des inneren Friedens in den Klanlanden hatten sich die Bewahrer stets den gemeinsam und von der Mehrheit der Fürsten getragenen Worten des Fürstenrates untergeordnet.
Aber so weit waren sie noch lange nicht. Erst musste Madhrab den Fürsten Corusal Alchovi überzeugen. Der Fürst war ein Freund, aber er war nicht dumm und vor allem politisch geschickt. Konnte er sich mit einem Anliegen im Rat nicht durchsetzen, verlöre er ohne jeden Zweifel an Ansehen und Einfluss. Und sollte ein Urteil der Bewahrer bereits ergangen sein, galt dieses als unumstößlich. Dagegen vorzugehen war anmaßend und sollte tunlichst vermieden werden, selbst von einem starken Fürsten wie Corusal.
Madhrab konnte sich daher keineswegs sicher sein, ob ihm Corusal in dieser sehr persönlichen Angelegenheit beistehen würde. Ein Wagnis, den Fürsten um einen solch großen Gefallen zu bitten. Der Einsatz des Fürsten wollte wohlüberlegt sein. Am Ende könnte dies sogar Krieg unter den Fürstenhäusern bedeuten, was die Klanlande weiter schwächen und für feindliche Übergriffe öffnen würde. Eine innere Zerrissenheit des Landes, die niemand wirklich wollte und die nur Blut und Tränen hervorbrächte. Wer wusste schon, wie lange sich die Klanlande wegen einer Uneinigkeit bekriegen würden?
Im Eispalast sorgte die Ankunft des Bewahrers und der Orna für
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