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Kryson 03 - Zeit der Dämmerung

Titel: Kryson 03 - Zeit der Dämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Rümmelein
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Erfahrungen im Land der Tränen noch nicht stark genug. Sie würde lernen müssen, mit der Macht und der freien Magie umzugehen.
    Mit einem lauten Krachen brach der Stein auseinander, der den weißen Schäfer in der abgeriegelten Nische festgehalten hatte. Sich ächzend und fluchend durch die entstandene schmale Lücke quetschend, hustete und klopfte er Staub und Steinsplitter von seinem Körper.
    »Ist denn keiner hier, mir die Ehre zu erweisen?«, rief er fragend in die Leere der Hallen hinein, »ich musste Tausende von Sonnenwenden unfreiwillig im Schlaf verbringen. Endlich stehe ich auf, und was muss ich feststellen? Alle haben mich verlassen. Selbst mein Bruder wurde mir untreu.«
    Seine Haut wirkte durchscheinend und wächsern wie weißer Alabaster. Sie ließ die darunter liegenden, dunkel hervortretenden Adern deutlich sichtbar werden. Außer seinem Haupthaar, das weiß wie Schnee war und im kalten Licht der Hallen hell schimmerte, besaß der weiße Schäfer kein einziges Haar an seinem Körper. Die Augen waren durchgehend weiß. Saijkal sah aus, als wäre er mit Blindheit geschlagen.
    »Saijrae!« Der weiße Schäfer wurde ungehalten und brüllte lauter als zuvor. »Verdammt, wo treibst du dich herum? Du kannst etwas erleben, wenn du dich nicht auf der Stelle zeigst.«
    Er bebte und zitterte vor Erregung. Hätte er in jenem Augenblick der Wut und Enttäuschung jemanden angetroffen, er hätte sich auf ihn gestürzt und erwürgt. Er leckte sich mit der Zunge über die blassen Lippen, die ihm spröde und rissig vorkamen. Selbst seine Zunge hatte eine eigenartig helle Färbung. Ähnlich den Zähnen in seinem Mund wies sie einen gelblichen Farbstich auf. Finger- und Zehennägel waren lang und spitz zugeschliffen. Aber sie waren lange nicht mehr gepflegt worden, was ihm selbst unangenehm auffiel. Die Leibwächter hatten ihre Aufgabe vernachlässigt, denn die Pflege der schlafenden Saijkalrae musste in der Vergangenheit stets ihr erstes und vornehmstes Anliegen gewesen sein. Saijkal sah an sich herab und bemerkte den Zustand seiner Nacktheit.
    Warum bringt mir in diesen verfluchten Hallen niemand Kleider?, fragte sich der weiße Schäfer. Es ist kalt. Das Schlimmste daran ist, ich friere, und das zum ersten Mal nach fünftausend Sonnenwenden. Wo sind Haisan und Hofna? Wo die Saijkalsan?
    »Bruder! Was hast du getan?«
    Trotz der überwiegenden Freude über das unerwartete Erwachen verschlechterte sich die Laune des weißen Schäfers zusehends. Sie hatten ihn verlassen, legten offensichtlich keinen Wert auf seine Rückkehr.
    War ich umgeben von Verrätern?, dachte Saijkal.
    Und was hatte der dunkle Hirte in der Zwischenzeit Übles angerichtet? Der weiße Schäfer war noch nicht ganz im Bilde. Saijkal entdeckte das große, in den Hallen hängende Auge. Dieses musste ihm gehorchen und würde ihm hoffentlich Aufschluss über die Ereignisse und Umstände geben, die den Fluch des ewigen Schlafes auch für ihn endgültig gebrochen hatten. In den Träumen war ihm bewusst geworden, dass Saijrae bereits einige Zeit vor ihm erwacht war. Der dafür erforderliche Blutzoll war wohl erbracht worden. Die Wirren der Schlacht am Rayhin, das Blut, der Schmerz, die unzähligen Gefallenen und die Verzweiflung der Überlebenden waren ihm im Schlaf nicht verborgen geblieben. Und er hatte den wachen Zustand seines Bruder und dessen Absichten, das Gleichgewicht zugunsten der Dunkelheit zu verschieben sowie der Lesvaraq habhaft zu werden und alleine – ohne den weißen Schäfer – zu herrschen, als einen kalten Schauer auf seiner Haut gefühlt, der ihn zutiefst beunruhigt hatte. Doch das Gefühl war zuletzt mit jedem weiteren Tag stärker geworden. Solange er sich im Schlaf befunden hatte, waren ihm sämtliche Möglichkeiten verbaut gewesen, einzugreifen und seinen Bruder von einigen seiner Vorhaben abzubringen. Wie hatte Saijrae nur so unvernünftig sein und das Gleichgewicht herausfordern können?
    Aber der dunkle Hirte hörte seinen Bruder nicht. Sehr wohl hatte er eine leichte Erschütterung gespürt, als ob sich ein schwach wahrnehmbares Erdbeben durch den Waldboden gezogen hätte, durch dessen Wirkung Bäume, Sträucher, Büsche und Gräser in ihrem Wurzelwerk erzitterten. Zu mehr als einem sanften Schütteln der Blätter und Baumkronen reichte es allerdings nicht. Aber dies hätte auch einer natürlichen Ursache entspringen können. Dennoch fühlte er plötzlich die wache Anwesenheit seines geliebten und zugleich gehassten Bruders.

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