Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
ein Kratzen oder ein Rascheln handelte, kam ihr ungeheuer und laut vor. Sie wollte nicht sterben. Jedenfalls nicht hier und nicht auf diese Weise. Das Klappern eines Fensterladens ließ sie aufschrecken. Die Wehklagen eines Kranken in den Gassen verursachten einen Schauer auf ihrer Haut. Als sie den Todesschrei eines Tieres vernahm, zuckte sie vor Schreck zusammen. Allein und verlassen, umgeben von Tod und Verwesung und dem Zerfall ihrer Welt, fürchtete sie sich und wünschte sich die Geborgenheit ihrer Kindheit zurück.
»Mutter, hilf mir! Bitte!« , rief sie, doch ihr Flehen blieb ungehört. Hätte Raussa gewusst, dass Ukulja bereits den Kojos geopfert worden war und Thezael von ihrem Blut gekostet hatte, ihre Verzweiflung wäre noch weiter gestiegen.
Schlaf überkam sie erneut, und sie dämmerte in einen Traum hinein, der sich seltsam anfühlte. Es war, als könnte sie die Bilder als Teil einer Realität greifen, und doch entglitten sie ihren Versuchen immer wieder im letzten Augenblick. Ein Mann stand aufrecht neben ihr. Trotzdem sie ihn nicht kannte, kam er ihr auf eigenartige Weise vertraut vor. Obwohl der Traum auf sie erschreckend und niederschmetternd wirkte, ihr beinahe jede Hoffnung raubte, strahlte der Fremde Macht und Zuversicht aus. Weder war der Mann attraktiv noch in seinem Herzen ein guter Klan, das konnte sie spüren. Aber es war etwas Besonderes an ihm, eine Kraft und Stärke, die sie sich nicht erklären konnte. Dennoch fühlte sie sich an der Seite des Mannes auf merkwürdige Weise wohl und geborgen. Raussa saß neben ihm auf einem Kutschbock. Sie schwiegen und blickten mit Wehmut von einem Hügel auf ein sterbendes Land hinab. Die Bäume warfen ihre Blätter ab und blieben kahl. Bleiche Gestalten zogen von Kummer und Gram gebeugt durch die Ebene vor ihnen, über verdorrte Gräser und Blumen hinweg, deren Blüten sich nicht wieder öffnen würden. Ausgetrockneter Boden wechselte sich mit schlammigem Untergrund ab, der ihre Schritte schwer machte und in welchem sie immer wieder stecken blieben. Es handelte sich um Klan auf der Flucht, die seit langer Zeit kein Licht mehr gesehen hatten. Die Ernte war ausgeblieben, und sie mussten sich einen Platz suchen, an dem sie bleiben und überleben konnten. In dem Wissen, dass es diesen Ort nicht gab, zogen ihre Untertanen auf ihrer letzten Reise in die Sklaverei des dunklen Hirten, um diesem bis zum Ende zu dienen. Wer wollte sie aufhalten, wer den Schrecken beenden?
»Tja … nun …« , sagte der Mann aus ihrem Traum und blickte ihr dabei tief in die Augen, »… das gefällt mir nicht. Dagegen werden wir etwas unternehmen müssen. Habt Vertrauen! Es wird alles gut.« Und sie wusste, dass er die Wahrheit sprach. Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf einen Krieger in roter Rüstung, der auf einem Streitross und mit hoch erhobener Blutklinge gegen den mächtigen Feind ritt. Die Klinge schimmerte in der Dämmerung und leuchtete ihm den Weg, als wäre sie in der Lage, die Dunkelheit alleine mit Gewalt zu durchbrechen und das Licht nach Ell zurückzubringen. Er sah zu ihnen herüber. Ein alter Mann mit traurigen Augen, wettergegerbtem, faltigem Gesicht, grauem Bart und kahlem Kopf, den zahlreiche rituelle Tätowierungen zierten. Es konnte nur ein Bewahrer sein. Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters vielleicht ein Letztgänger. Sein Blick verriet ihn, dieser Krieger hatte das Leid gesehen, am eigenen Leib erlebt und unzählige Feinde getötet. Aber an dem Bild stimmte etwas nicht. War er nicht der Schuldige am Tod Lordmaster Kaysahans, den sie im Grunde ihres Herzens hassen und an dem sie Vergeltung üben sollte? Wie konnte sie all ihre Hoffnung auf Rettung in den vermeintlichen Mörder ihres Geliebten stecken? Die Gedanken an Rache verflogen, als ihre staunenden Augen ein magisches Geschöpf am Dämmerungshimmel erblickten. Über dem Krieger zog ein Flugdrache seine Kreise, auf dessen Rücken ein Drachenreiter saß. Er hielt einen leuchtenden Stab in der Hand und strahlte eine Macht aus, die ihr unheimlich und fremd war. Trotz seiner Macht konnte sie seine Skepsis fühlen, die ihn offenbar daran hinderte, seine in ihm schlummernden Fähigkeiten zur Gänze zu entfalten, und ihn an einem Erfolg zweifeln ließ.
Ein fürchterliches Heulen riss sie aus ihrem Schlaf. Schlagartig war sie hellwach. Nichts hatte sich geändert. Nach wie vor fühlte sich Raussa elend. Auf ihrer Haut perlte Schweiß, der allerdings nur wenig Abkühlung brachte. Das Wundfieber
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