Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
Eiskrieger hatten den Bewahrer nach Harrak gebracht. Dort war er sicher verwahrt, und soweit Madhrab informiert war, würde das Leben in Harrak alles andere als angenehm sein. Sollte der Mörder in seiner Erbärmlichkeit doch für eine Weile hinter den eisigen Mauern des Lagers bleiben. Er hoffte insgeheim, dass Chromlion das ihm bevorstehende Martyrium von Harrak überleben würde, damit er persönlich mit ihm abrechnen konnte.
Baylhard hatte ihm jedoch berichtet, dass die meisten Gefangenen nicht einmal eine Sonnenwende in Harrak durchhielten. Aber Madhrab kannte seinen Ordensbruder besser.
Er traute Chromlion zu, dass er sich in den Mauern von Harrak behaupten konnte. Wenn er seinen Gefühlen jetzt nachgab und Chromlion tötete, verlöre er wertvolle Zeit, um die gegen ihn veranlassten Intrigen richtigzustellen. Zeit, die er nicht verschwenden durfte. Freunde befanden sich in Gefahr. Doch die Vernunft siegte am Ende. Zuerst würde er sich um die Angelegenheiten des Ordens kümmern und sich Boijakmar und dessen Urteil stellen. Die Rache an Chromlion musste warten. Als er den Jungen an seiner Seite betrachtete, kam ihm plötzlich ein eigenartiger Gedanke.
»Madsick«, fragte Madhrab, »kannst du mit deinem Flötenspiel in das Reich der Schatten vordringen?«
Der Junge horchte auf. Das war fürwahr eine Frage, die er nicht gerne beantwortete. Was bezweckte der Lordmaster? Wollte er ihn etwa prüfen?
»Herr?« Madsick klang verunsichert. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«
»Wie soll ich es dir erklären? Ich weiß selbst nicht, ob und wie das möglich ist. Deine Musik erinnert mich an eine Art von Magie, die ich schon einmal am eigenen Leib zu spüren bekam. Sie stammt nicht von dieser Welt und ist sehr eigenständig, unbeeinflusst von jeglicher anderer Magieströmung. In der Schlacht am Rayhin habe ich die Todsänger erlebt. Sie sind weder tot noch lebendig. Doch sie kehrten aus dem Reich der Schatten in die Welt der Lebenden zurück. Der Schlüssel ihres Geheimnisses liegt in ihrem Gesang verborgen, mit dem sie ihren Opfern die Seelen entlocken. Sapius, der Magier, behauptete, er könne nichts gegen den Gesang unternehmen. Es gäbe kein Mittel und keine Magie, ihn zu unterbinden. Ich glaube, dein Flötenspiel ist womöglich stärker als der Gesang der Todsänger, die angeblich in der Lage sind, die Toten aus den Schatten zurückzurufen. Erinnerst du dich an unsere Begegnung auf der Passhütte am Choquai? Die Klänge deiner Flöte lähmten mich und brachten die Sarchas in Rage. Sie hätten mich glatt in Stücke gerissen, wenn Elischa nicht gewesen wäre und das Flötenspiel beendet hätte.«
»Ich erinnere mich mit Bedauern daran, Herr«, antwortete Madsick betrübt. »Es tut mir leid, Euch in Gefahr gebracht zu haben.«
»Unsinn, das ist Schnee von vor dem Winter und längst vergessen«, erwiderte Madhrab. »Was ist? Denkst du, das Flötenspiel könnte die Schatten erreichen und aus ihrem Reich hervorlocken?«
»Ich weiß nicht, Herr. Denkt Ihr nicht, das wäre zu gefährlich?«
»Mag sein, dass es mit Gefahren verbunden ist, die wir nicht kennen. Aber es wäre einen Versuch wert. Ich hatte eine Begegnung mit meiner Familie, bevor ich dein Flötenspiel vernahm und sie in den Schatten entschwanden.«
»Ihr wollt sie zurückholen?«, fragte Madsick verwundert.
»Sie und andere, die durch die Hand des Bewahrers Chromlion unschuldig sterben mussten«, sagte Madhrab. »Ich war nicht in Kalayan, als sie meine Hilfe brauchten, und es ist meine Schuld, dass sie unter Chromlion litten und den Tod fanden. Doch wenn ich rückgängig machen könnte, was geschehen ist, würde ich mich deutlich besser fühlen.«
»Ihr seid verrückt, Herr!«, erwiderte Madsick. »Verzeiht, aber wisst Ihr, meine Musik vermag vieles, aber … die Schatten … ich fürchte mich.«
»Willst du es versuchen? Die Angst ist ein guter Begleiter. Sie macht dich vorsichtig, aber sie darf dich nicht beherrschen.«
»Herr …«, Madsick zögerte, bevor er fortfuhr, »ich muss Euch etwas gestehen. Schon einmal ließ ich die Schatten zu den Klängen meiner Flöte tanzen. Das Tor zum Reich der Schatten öffnete sich. Sie kamen, sprangen und hüpften um mich herum und wollten mich mit sich nehmen. Mein Vater stieß damals das Tor zu, bevor Schlimmeres geschehen konnte. Anschließend erhielt ich eine Tracht Prügel, an die ich mich bis heute erinnere. Eine Woche konnte ich vor Schmerzen meine Lagerstätte im Verlies nicht verlassen.«
»Ich
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