Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
verspreche dir, dass ich nichts dergleichen tun werde. Aber verrate mir, wer dir das Flötenspiel beigebracht hat. Ich habe dich nie danach gefragt«, antwortete Madhrab.
»Sicher, wenn es Euch interessiert. Es war in der Grube, Lordmaster. Ich war noch sehr klein …«, begann Madsick seine unglaubliche Geschichte, denn niemand zuvor hatte das Loch unter dem Haus des hohen Vaters jemals lebend verlassen.
Im Verlies aufgewachsen hatte Madsick nie das Tageslicht gesehen. Aber dafür kannte er sich bestens in seiner Umgebung aus. Jeder Winkel, jeder Geheimgang und jedes Versteck im Verlies waren ihm vertraut. In der Neugier eines Kindes hatte er aus einem seiner Lieblingsverstecke heraus beobachtet, wie die Bewahrer eines Tages einen Gaukler zur Grube brachten; verurteilt wegen Vergewaltigung und Mordes an einer Hure und anschließender Lästerung der Kojos in einer schäbigen Spelunke am Hafen Tut-El-Bayas. Das Urteil der Bewahrer lautete auf ein Schicksal in der Grube.
Der Gefangene trug eine Flöte bei sich. Während er in Ketten am Versteck des Jungen vorbeigeführt wurde, begegneten sich für einen Augenblick ihre Blicke. Madsick hatte sich ertappt gefühlt, doch der Gaukler zwinkerte ihm lächelnd zu, legte die Flöte an die Lippen und begann ein fröhliches Lied zu spielen, das er bis zum Rand der Grube fortsetzte. Das Urteil wurde vollstreckt, das die Grube bedeckende Gatter geöffnet und der Gaukler in die Dunkelheit des tiefen Loches hinabgelassen. Erst als sich die Bewahrer von der Grube entfernt hatten, traute sich Madsick aus seinem Versteck und rannte dorthin, wo er den Gaukler verschwinden sah. Als er durch die dicken Stäbe des Gatters in die Finsternis spähte, konnte er zwar nichts erkennen, aber das Flötenspiel war für ihn deutlich wahrnehmbar. Das Instrument faszinierte ihn. Er hatte so etwas nie zuvor gesehen. Die Töne gefielen ihm und sie zogen ihn geradezu magisch an. Er musste eine Flöte haben, denn in jenem Moment wusste er, dass er sie eines Tages spielen würde und für die Musik geboren war. Doch die Musik endete abrupt und wurde von einem markerschütternden Schrei durchbrochen, der Madsick das Blut in den Adern gefrieren ließ. Madsick hatte die Bewahrer, während diese das Gatter geöffnet hatten, beobachtet. Es gab einen Hebelmechanismus, mit dem es leicht war, die Abdeckung zu entfernen. Alle Vorsicht und Warnungen missachtend, die Angst überwindend, ließ sich Madsick an einem Seil, das er zuvor in einer der im oberen Bereich des Verlieses befindlichen Werkzeugkammern unbemerkt entwendet hatte, in die Grube hinab. Die schmale Plattform, mit der die zu diesem Schicksal Verurteilten in die Grube hinabgelassen wurden, konnte er nicht verwenden. Diese wurde ausschließlich von oben bedient. Der Abstieg in die Grube war lang und anstrengend. Beinahe wäre er an manchen Stellen abgeglitten und gestürzt, ohne den Boden vor Augen zu haben. Aber er hatte Glück und erreichte nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war, den Grund der Grube. Seine Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt, sodass es ihm leichtfiel, ohne Laterne oder Fackel etwas zu erkennen. Kaum war er am Boden angelangt, entdeckte er die Flöte vor seinen Füßen und nahm sie an sich. Das Instrument war blutverschmiert. Daneben lagen eine herausgerissene Zunge und Lippen, die als solche jedoch schwer zu erkennen waren. Aber der Gaukler war weit und breit nicht zu sehen. Madsick machte sich auf die Suche. Vom Grund führten sechs Gänge weg. Er folgte dem Geruch frischen Blutes und stieß schon bald auf den Gaukler. In den Augen des Gefangenen schimmerte Wahnsinn. Von seinen Händen tropfte Blut. Die Lippen und die Zunge musste sich der Gaukler selbst mit bloßen Händen ausgerissen haben. Madsick zeigte dem Verurteilten, was er gefunden hatte. Aber dieser nahm ihn nicht mehr wahr. Der Glanz war aus den Augen des Flötenspielers verschwunden; sein Gesicht stellte bloß noch eine blutende Fratze dar. Der Gaukler wog seinen Oberkörper in gleichbleibendem Rhythmus vor und zurück, offenbar befand er sich in einer gänzlich anderen Welt. Doch da war noch etwas anderes. Anfangs fühlte es sich für Madsick an, als würde er beobachtet. Das Gefühl steigerte sich, bis er eine erste Berührung spürte. Ein Wesen verbarg sich in den Gängen der Grube, tastete nach ihm, doch hielt sich stets im Verborgenen. Der Junge wusste sofort, dass sich das Wesen nicht offen zeigen würde. Dafür war es zu vorsichtig, was
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