Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
Bruder, sei nicht allzu traurig«, versuchte Hira ihren Bruder noch im Entschwinden zu trösten, »wir sind zusammen hier in der Finsternis der Schatten, aber du kamst … zu spät … viel zu spät . Ich wünsche dir Glück.«
»Wer hat das getan?«, verlangte Madhrab wissen, der plötzlich feststellte, dass er sich in der Wirklichkeit befand, aus der es kein Erwachen gab.
Auf eine Antwort der Geister der Verstorbenen wartete Madhrab vergebens. Allerdings weckte ihn ein Flötenspiel aus seiner Abwesenheit. Die Klänge kamen ihm bekannt vor und jagten ihm einen Schauer über den Rücken. Traurig und süß, verlockend und abstoßend zugleich. Aufgrund seiner betrübten Stimmung erreichte die Musik sein Innerstes im Nu.
Madsick , ging es ihm durch den Kopf.
Natürlich. Nur dieser Junge spielte die Flöte so virtuos und unverkennbar. Madhrab blickte auf und drehte sich in Richtung der merkwürdig klingenden Töne. Und dort, lässig angelehnt an die Holzwand eines Stalls unmittelbar in der Nähe des Ortseinganges, stand der hagere Junge. Kein Zweifel, es war Madsick. Er sah verwahrloster und magerer aus als bei ihrer letzten Begegnung, bevor er ihn von der Passhütte zurückgeschickt hatte, den Winter in Kalayan zu verbringen. Offensichtlich hatte er Hunger leiden müssen und das Elend miterlebt. Madhrab plagten Schuldgefühle, als er Madsick erblickte, wenngleich er nicht vollständig überschauen konnte, was sich tatsächlich ereignet hatte. Madsick steckte die Flöte ein und bewegte sich auf wackeligen Beinen auf den Bewahrer zu. Er sah geschwächt aus und hatte Mühe, sich aufrecht zu halten.
»Madsick«, begrüßte der Lordmaster den Jungen, doch seine Stimme klang belegt. »Bei allen Kojos, was ist geschehen?«
»Lordmaster Madhrab«, entgegnete Madsick den Gruß, »Ihr seid endlich zurück und doch zu spät … viel zu spät. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, welches Grauen das Dorf heimgesucht hat.«
»Ich habe eine Ahnung, aber du musst mir alles erzählen. Wer hat das getan?«
»Bitte, habt Ihr etwas zu essen für mich, Herr?«, fragte Madsick mit schwacher Stimme. »Mich quält der Hunger, und ich fürchte, mit meinen Erzählungen nicht weit zu kommen.«
»Natürlich!« Madhrab kramte Brot, Käse und geräucherten Fisch aus seinem Reisebündel hervor.
Die Eiskrieger hatten den Lordmaster vor seiner Abreise reichlich mit Proviant versorgt, und Baylhard hatte darauf bestanden, dass er das geräucherte Moldawarfleisch mitnehmen sollte. Es sei eine köstliche Besonderheit für wahre Männer, sehr gesund und nahrhaft, hatte er ihm mit einem Augenzwinkern mit auf den Weg gegeben. Madsick achtete nicht darauf, was ihm der Bewahrer reichte. Er verschlang das Essen mit einem Heißhunger, als habe er tagelang nichts mehr zu sich genommen. Danach fühlte Madsick sich besser, und sie suchten sich einen geschützten Platz, an dem der Junge berichten konnte. Mit jedem Wort verfinsterte sich die Miene des Bewahrers. Trauer und Wut bestimmten seine Gefühle. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen. Der Drang, auf der Stelle aufzuspringen und umzukehren, wurde immer größer. Chromlion hatte seine Familie kaltblütig hingerichtet. Das Verlangen nach Rache stieg in ihm empor. Ungehemmt und explosiv – ein Sturm, der jederzeit aus ihm herauszuplatzen drohte. Der Ordensbruder hatte einen Großteil seines Lebens zerstört, indem er Madhrabs Familie genommen hatte. Niemand außer Elischa und Tomal waren ihm geblieben. Chromlion, du wirst leiden. Du Bestie! Du Mörder! Feige warst du, hast das Urteil für deinen Hass genutzt. Warte, mein Bruder . Ich jage dich bis ans Ende meiner Tage. Ein langsamer und qualvoller Gang zu den Schatten steht dir bevor, dachte Madhrab. Er war verrückt vor Schmerz! Der Lordmaster war nicht mehr er selbst, als er drohte, sich in seinem Hass auf Chromlion zu verlieren. Madhrab kämpfte gegen das ihn überwältigende Gefühl an, schlug mit den Fäusten zornig gegen die Pfähle und auf den Boden, bis er sich verausgabt hatte. Und es gelang ihm tatsächlich, sich zurückzunehmen. Keuchend und mit verdrehten Augen schwankte die Welt um ihn, bis er wieder ein deutliches Bild sah.
Er musste nachdenken. Welchen Sinn hatte es jetzt noch, Chromlion sofort für seine Taten büßen zu lassen. Er würde ihn verfolgen und stellen; wenn es sein musste, bis in die letzten Winkel von Kryson. Er würde Chromlion überall finden und wenn es das Letzte war, was er in seinem Leben vollbringen musste.
Die
Weitere Kostenlose Bücher