Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
Spiel, Madsick. Spiel auf deiner Flöte, bis sich die Pforte öffnet. Den Rest überlasse ruhig mir.«
Zitternd setzte Madsick die Flöte an die Lippen und spielte. Die ersten Töne hörten sich leise und unsicher an, so als habe der Junge seine Furcht vor den tanzenden Schatten nicht überwunden.
»Lauter, Madsick!«, wies Madhrab den Flötenspieler an. »Lauter und ohne Angst. Konzentriere dich auf die Musik.«
Madsick nickte, nahm all seinen Mut zusammen und flötete weiter. Der Klang des Instrumentes wurde mit jedem Ton klarer, und Madhrab spürte, dass der Junge auf dem richtigen Weg war. Die Töne erfassten ihn, umspülten seine Sinne mit Schwermut und lähmten seinen Geist. Ein Nebel kam auf. Undurchdringlich und grau waberte die Erscheinung erst um die Füße des Bewahrers und kroch dann langsam an den Beinen hinauf, bis er schließlich eingeschlossen war von einem Dunst der Schatten, der das noch verbliebene schwache Dämmerungslicht verdrängte und ihn mit sich zog. Madhrab konnte den Jungen nicht mehr sehen, wohl aber hörte er die drängender werdende Musik, so als gebiete sie den Schatten, sich endlich zu zeigen. Plötzlich wurde es kalt und der Bewahrer sah den eisigen Atem vor seinem Mund. Aus dem Nebel drangen Stimmen an sein Ohr. Erst leise, wie Flüstern, das langsam zu einem Schreien anschwoll. Madhrab bewegte die Arme, wie wenn er gegen eine Strömung schwimmen wollte. Der Nebel teilte sich vor seinen Augen und gab einen Pfad frei, der in eine vor ihm gelegene Höhle führte. Die Höhle war mit dem Nebel angefüllt und knapp über dem Boden zogen sich Nebelschwaden entlang. Langsam ging Madhrab auf den Eingang der Höhle zu. Mit jedem Schritt wurde die Umgebung fühlbar kälter. Abrupt blieb Madhrab stehen, als vor ihm konturlose Schatten aus dem Nebel auftauchten. Für seine Augen zerflossen sie mit den sie umgebenden Nebelschwaden und wurden jeden Augenblick aufs Neue daraus geboren. Ihre Bewegungen folgten der Musik. Sie schienen zum Rhythmus des Liedes zu hüpfen, sich im Kreis zu drehen und zu tanzen. Madhrab hatte keinen Zweifel mehr. Madsick hatte die Pforte zum Schattenreich für ihn geöffnet. Schlagartig kam das Bewusstsein zurück, dass er den Jungen schützen musste. Das hatte er ihm versprochen. Er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. Denn offenbar hatten die Schatten ihre Ohren nur der Musik geöffnet und ihre Sinne auf den Jungen gerichtet. Obwohl er nahe vor ihnen stand, nahmen sie von ihm kaum Notiz oder maßen ihm keine Bedeutung zu.
»Hör auf zu spielen, Madsick«, rief Madhrab. Seine eigene Stimme kam ihm weit entfernt und hohl vor.
Das Lied verklang. Die Schatten blieben wie angewurzelt stehen. Es war, als ob sie sich unschlüssig waren, was sie aus der Höhle hervorgelockt hatte und was sie als nächstes unternehmen sollten. Vor ihnen stand jemand, ein Fremder aus der Welt der Lebenden, der nicht hierhergehörte, ihren Tanz gestört hatte, und das gefiel ihnen nicht. Der Nebel begann sich wieder zu bewegen und wurde dichter. Madhrab hörte erneut Stimmen. Dieses Mal waren sie an ihn gerichtet und klangen wenig freundlich.
»Verschwinde, sterbliches Fleisch. Du hast in unserem Reich nichts verloren.«
»Bitte … ich bin auf der Suche nach meiner Familie. Wollt Ihr mir helfen sie zu finden?«, fragte Madhrab, der an seiner Idee zweifelte.
»Wir sind Schatten«, riefen die Schatten im Chor , »du lebst und darfst nicht hier sein. Noch nicht.«
»So versteht doch«, Madhrab klang verzweifelt, »ich will nicht bei Euch verweilen. Aber unter Euch befinden sich Klan, die ebenfalls nicht hierhergehören. Es ist meine Schuld, dass sie zu früh zu Euch kamen. Lasst sie mich sehen und mit ihnen sprechen.«
»Jeder, der von den Schatten geholt wurde, gehört in das Reich der Schatten. Geh oder zahle den Tribut für deine Dreistigkeit!«
»Ich gehe nicht ohne meine Familie und die Bewohner des Dorfes Kalayan, die jüngst zu Euch kamen.«
»Sie sind tot«, antworteten die Schatten , »du kannst sie nicht mitnehmen.«
»Aber es gibt Magie, die vermag, was Ihr mir verwehrt. Die Musik des Flötenspielers und der Gesang der Todsänger …«
»… und der Lockruf des Totenerweckers, der Schrei des Blutschwertes, das Wispern der Praister, die Zauber der Magier, die Harfe der Nno-bei-Maja, das Flüstern der Felsgeborenen und das fürchterliche Saitenspiel eines Narren, dem Wächter des Buches. Das ist anders. Sie zwingen uns Schatten zu tanzen und ihnen zu dienen. Aber sie
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