Kryson 04 - Das verlorene Volk
vorbeikommen.«
Hardrab überlegte lange, während er abwechselnd vonseinem Bruder zu Mairon und dann zu der Drachenechse sah. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, einen Gefährten im Stich zu lassen, wenn es zumindest eine winzige Hoffnung auf Rettung gab. Doch er musste einsehen, dass sie in einer ausweglosen Situation steckten. Mairon war zu geschwächt, um mit ihnen gegen die Sagar zu kämpfen. Wie sollten sie die Echse überwinden?
In letzter Zeit schien alles schiefzulaufen. Das harte Leben in den Sümpfen der Grenzlande hatte ihnen schwere Prüfungen auferlegt. Das Schrecklichste daran war jedoch, dass Hardrab glaubte, sich mit jedem weiteren Tag mehr und mehr von seinem Zwillingsbruder zu entfernen. Dabei waren sie einst unzertrennlich gewesen. Niemals hätte er sich vorstellen können, dieses eng geknüpfte Bruderband würde eines Tages zerreißen. Foljatin war sein eigen Fleisch und Blut, sie hatten sich den Leib ihrer Mutter geteilt und waren zusammen aufgewachsen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie auch nur einen einzigen Tag in ihrem Leben voneinander getrennt gewesen wären. Aber vielleicht würden sie auch hier und jetzt gemeinsam zu den Schatten gehen, dann würden sich alle weiteren Fragen erübrigen. Hardrab verdrängte die düsteren Gedanken an eine Trennung von seinem Bruder.
»Wir kämpfen, Bruder«, sagte er schließlich in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ, und umfasste den Griff seines Schwertes fest. »Zieh dein Schwert und zeig, was du von Madhrab gelernt hast. Wir sind die Söhne Gwantharabs und haben keine Angst vor den Schatten. Wenn es sein muss, sterben wir. Aber wir werden keinen Freund opfern, nur damit wir weiterleben dürfen.«
Foljatin zuckte mit den Schultern, so als ob es ihm plötzlich gleichgültig wäre, ob sie gegen die Drachenechse antreten oder ihr Heil in der Flucht suchen mussten. Und doch hatte er Angst. Mit der freien Hand tat er es seinem Bruder gleich undzog das Schwert aus der Scheide. Eine starke Waffe, die gut in der Hand lag und bestens ausbalanciert war.
Nachdem sie Mairon auf den Boden hatten gleiten lassen, sahen sie sich noch einmal in die Augen und bewegten sich dann gleichzeitig und langsam in geduckter Haltung auf den Schemen im Nebel zu. Ein ohrenbetäubendes Brüllen aus zwei Mäulern ließ sie an ihrem Vorhaben zweifeln. Die Sagar hatte den Kopf gedreht und die Absicht der Brüder sofort erkannt. Kampflustig und hungrig trat sie ihnen entgegen.
»Wie lange sind Hardrab und Foljatin schon überfällig?«, wandte sich Madhrab fragend an Elischa.
Der Bewahrer sorgte sich um die Zwillingsbrüder, für die er seit dem Tod ihrer Familie eine besondere, geradezu väterliche Verpflichtung empfand. Sie waren das Versprechen, das er einem guten, im Kampfe gefallenen Freund schuldig war.
»Ich weiß nicht«, antwortete die Orna stirnrunzelnd, »sie haben sich vor neun Tagen zur Jagd auf den Weg gemacht. Das erscheint mir nicht ungewöhnlich lang zu sein. Die Pfade durch den Sumpf sind beschwerlich, und zuletzt mussten immer weitere Strecken zurückgelegt werden, um gute Beute ins Lager zu bringen.«
»Vielleicht sollten wir unser Lager bald abbrechen und uns einen neuen Standort suchen, an dem uns die Jagd mehr Erfolg verspricht«, meinte Madhrab nachdenklich.
»Wir sollten die Grenzlande für immer verlassen«, schlug Elischa vor. »Was suchen wir in dieser unwirtlichen Gegend voller Gefahren? Dies ist kein Ort, an dem wir leben können. Niemand kann das. Du mutest deinen engsten Getreuen vieles zu. Zu vieles, wenn du mich fragst. Sie fangen an, unzufrieden zu werden, und verstehen dich und deine Entscheidungen nicht mehr. Ich verstehe dich kaum.«
»Ich habe keinen von ihnen gebeten, mich in die Sümpfe zubegleiten«, erzürnte sich Madhrab über Elischas Worte, »auch du hattest die Wahl.«
»Nein, die hatte ich nicht«, erwiderte Elischa, »du verdrängst, was in den dreiundzwanzig Sonnenwenden deiner Abwesenheit geschehen ist. Wo hätte ich nach alledem hingehen sollen? Ich habe auf dich gewartet, jeden verdammten Tag gehofft, du würdest kommen, mich aus der Gefangenschaft befreien und von dem Leid erlösen. Aber du kamst nicht. Nicht in der ersten Sonnenwende und auch nach fünf oder zehn Sonnenwenden nicht. Alle Hoffnung hatte ich verloren. Und dann, wie von den Schatten auferstanden, warst du plötzlich da. Dreiundzwanzig Sonnenwenden zu spät. Ich habe jeden Tag meiner Gefangenschaft gezählt! Aber was war aus dir
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