Kryson 05 - Das Buch der Macht
ihren Fenstern oder verfolgten den Einmarsch von ihren Balkonen. Die wenigsten unter ihnen hatten wirklich verstanden, was geschehen war. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, was die Kapitulation des Regenten für sie bedeutete: Knechtschaft. Madhrab mochte mit seiner Entscheidung ihr Leben geschont haben, aber er hatte ihnen auch etwas genommen. Ihre Freiheit war in einem einzigen Augenblick dahin, als er das Siegel des Regenten auf der Kapitulationsschriftrolle angebracht hatte und diese den Rachuren bringen ließ.
Die Tore waren geöffnet worden und der Feind marschierte durch die Straßen ihrer Stadt, seine Krieger zogen zum Marktplatz und dann weiter zum Kristallpalast. Es gab keine Rufe und keine Worte des Widerstands. Still und stumm, wie betäubt, verfolgten die Klan ihre Niederlage.
Es hatte keinen Kampf und keine Belagerung gegeben. Und doch triumphierten die Rachuren. Wo war der Held, auf den sie all ihre Hoffnungen gesetzt hatten?
Er stand auf seinem Balkon, beobachtete den Triumphzug und wartete auf das Eintreffen Nalkaars. Viele Klan wünschten sich Jafdabh zurück, ihren Befreier. Der einstige Todeshändler hatte ihnen das Licht und die Hoffnung nach einer schweren Zeit zurückgebracht. Ihm hatten sie den Wiederaufbau ihrer Stadt zu verdanken. Aber Jafdabh war verschwunden.
Allen voran zog Thezael, der oberste Praister, in die Stadt ein. Sein Erscheinen weckte die dunkelsten Erinnerungen an eine dunkle Zeit. Der Praister hatte einst die Schatten und ihre Geißel gerufen und über die Stadt gebracht. Viele Klan warendamals dem Wahnsinn verfallen und zu den Schatten gegangen. Das Elend hatte sich in das Gedächtnis der Bewohner gebrannt.
Nun war Thezael zurück. Sein Erscheinen konnte nichts Gutes für die Klan bedeuten. Früher hatten sie ihn flüsternd nur den Schattenmann genannt und seine Kaltherzigkeit und Grausamkeit insgeheim verflucht. Hinter vorgehaltener Hand, versteht sich, denn Thezael duldete keinen Widerstand und seine Bestrafungen waren furchtbar.
Der Praister kollaborierte ganz offen mit dem Feind. Er zog an der Spitze des Triumphzuges durch die Straßen Tut-El-Bayas. Den Einwohnern wurde klar, dass er der Statthalter für die Rachuren sein würde. Ein Verräter, der seinen Triumph und seine Rache schon bald in vollen Zügen ausleben würde.
Aber es gab nicht nur Betroffenheit und Furcht. Über eine lange Zeit waren die roten Roben der Praister aus der Hauptstadt verschwunden. Nach Thezaels Sturz hatten sie ihr Gewand abgelegt, waren entweder mit ihm aus der Stadt geflohen oder untergetaucht. Als hätten sie nur auf diesen Tag gewartet, kamen sie aus ihren Löchern gekrochen und legten ihre Roben an. Kaum hatten sie Thezael an der Spitze des Zuges erkannt, zeigten sie offen ihre Zugehörigkeit zu den Praistern. Die Zeit ihrer Verfolgung war vorbei. Die Praister waren zurückgekehrt, mächtiger denn je, und sie schlossen sich Schulter an Schulter ihrem einstigen und neuen Anführer auf seinem Weg in den Kristallpalast an. Von dort wollte er wie vor Sonnenwenden über Tut-El-Baya herrschen.
Die erste Frage nach Thezaels Ankunft im Palast galt seinem ehemaligen Kontrahenten.
»Wo ist Jafdabh?«, keifte der oberste Praister und wies seine Getreuen an. »Sucht ihn und bringt ihn mir!«
Als der Praister erfuhr, dass Jafdabh schon vor einiger Zeit den Palast verlassen hatte und seitdem verschwunden war, wurde er zornig.
»Versammelt die Dienerschaft, den gesamten Hofstaat und alle, die im Palast wohnen«, befahl Thezael.
»Was habt Ihr vor?«, wollte Nalkaar wissen.
»Eine neue Zeit ist angebrochen«, antwortete Thezael, »aber erst müssen wir all das Ungeziefer aufspüren, vernichten und die Stadt säubern. Die Klan müssen verstehen, wer ihre neuen Herren sind.«
»Das hättet Ihr auch einfacher haben können«, bemerkte Nalkaar und in seiner Stimme lag ein spöttischer Tonfall, »Ihr batet mich, die Stadt und ihre Einwohner zu verschonen. Ihr erinnert Euch doch gewiss. Ihr wolltet nicht über leere Gassen, Ruinen und Geister bestimmen.«
»Natürlich erinnere ich mich«, antwortete Thezael ungehalten, »aber dies ist etwas anderes. Wir suchen unsere Feinde gezielt aus und statuieren einige Exempel. Das wird den Frieden und die Ruhe in der Stadt erhalten.«
»Eine Herrschaft des Schreckens also«, stellte Nalkaar fest, dem die Ähnlichkeiten zu Rajuru sofort wieder in den Sinn kamen.
»Wenn Ihr es denn so nennen wollt«, sagte Thezael, »der Schrecken und die Schatten werden
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