Kryson 05 - Das Buch der Macht
die Wahrheit hinter den Grenzen des Verstands zu erkennen. Sapius war zu schwach, diesen Schritt zu gehen, und blieb in seiner Vorstellungswelt verhaftet. Die Grube veränderte sich nicht.
»Folgen Belrod«, sagte der Maiko-Naiki plötzlich.
Die Streiter blickten den Riesen überrascht an. Der Gesichtsausdruck des Maiko-Naiki war entschlossen. Was hatte der Riese gesehen?, fragte sich Sapius. War es möglich, dass Belrod mit seinem einfachen Gemüt in der Lage war, das Unfassbare zu erkennen? War er immun gegen die Art von Magie und Beeinflussung, die der Gedankenschinder in seinem Reich ausübte? War er der Starke unter den Streitern, der genügend Fantasie – die unschuldige Fantasie eines Kindes – besaß, sie alle in den Schatten zu stellen?
»Das ist die Erklärung«, dachte Sapius bei sich, »er kann sehen, was wir nicht sehen. Wer außer Belrod sollte sich in einem solchen Gefängnis zurechtfinden. Belrods Geist weigert sich, das Böse des Gedankenschinders anzunehmen. Er hat seine eigene Sicht der Dinge und sieht dadurch die Wirklichkeit. Der Maiko-Naiki muss uns für verrückt gehalten haben, als wir in der Grube ständig auf und ab gingen, unser Ziel immer dicht vor der Nase.«
Belrod führte die Streiter einen kurzen Gang weiter durch die Grube und blieb dann stehen. Er zeigte mit dem Finger vor sich auf eine fleischige Wand.
»Da … Narr!«, sagte der Riese.
Sapius konnte nichts erkennen. Die übrigen Streiter schüttelten ebenfalls ungläubig den Kopf. Der Magier fragte sich, ob er sich in dem Maiko-Naiki getäuscht hatte und der Riese inzwischen seinen Verstand vollständig verloren hatte. Aber seine zuvor angestellten Überlegungen kamen ihm nach wie vor schlüssig vor. Der Maiko-Naiki sah etwas, was ihre Gedanken nicht sehen konnten. Der Riese war ihnen in dieser Hinsicht weit voraus.
Das Grübeln und die bohrenden Fragen hatten ein Ende, als Tarratar plötzlich wie aus dem Nichts vor den Streitern auftauchte. Der Narr schien wenig erfreut, die Streiter zu sehen. Mit seinem Erscheinen änderte sich die Umgebung in derGrube. Die Streiter konnten entdecken, was Belrod gesehen hatte. Sie befanden sich in einer großen und hohen Kaverne, die von feuchten, grauen Felswänden umgeben war. Es gab lediglich zwei Zugänge. Durch einen davon hatte sie Belrod direkt zu Tarratar geführt, der sich auf eine Kiste mit zwei Schlössern gesetzt und auf das Eintreffen der Streiter gewartet hatte.
»Hoi, hoi, hoi«, meinte Tarratar, »die Suche hat aber lange gedauert. Ich dachte schon, wir müssten aufgeben und Euch in der Grube verfaulen lassen.«
»Was bedeutet in Euren Worten lange ?« , wollte Sapius sofort in Erfahrung bringen.
»Das wollt Ihr nicht wissen«, lächelte Tarratar verlegen.
»O doch«, antwortete Sapius, »ich will es sogar sehr genau wissen.«
»Eure Bärte sind lang und grau«, kicherte Tarratar, »die Haare dünn und verfilzt. Eure Haut ist schlaff und faltig und weist viele Flecke auf. Und mager seid Ihr auch. Während Ihr geschlafen habt, ernährte Euch der Gedankenschinder mit dem Fleisch der Grube und hielt Euch so über all die Zeit am Leben. Doch Ihr habt Glück, Sapius. Euch trifft das Altern nicht. Renlasol wird durch den Fluch des Bluttrinkers geschützt. Der Lesvaraq ist ein Lesvaraq und hat seinen Zyklus. Die Felsgeborenen altern kaum und spät. Bei Malidor, Baijosto und Belrod verhält es sich jedoch anders. Ihnen sind die Spuren der Suche und die vergangene Zeit deutlich anzusehen.«
»Wie lange, Tarratar!«, Sapius hörte sich ungehalten an.
»Nun, wenn Ihr es denn unbedingt so haben wollt«, schüttelte Tarratar klingelnd seinen Kopf, »um genau zu sein: siebenunddreißig Sonnenwenden, drei Monde, vierundzwanzig Tage und sieben Horas.«
»Das darf nicht wahr sein«, rief Sapius und schlug vor Entsetzen die Hände vors Gesicht.
»Ich weiß nicht, was Ihr wollt. Das ist eine Kleinigkeit im Vergleich zur Ewigkeit«, frotzelte Tarratar.
»In siebenunddreißig Sonnenwenden könnte Kryson längst untergegangen sein und nichts ist, wie es einst war. Die Zeit unseres Lebens wurde uns gestohlen«, sagte Sapius kopfschüttelnd, »ich hätte mich nicht auf Euch einlassen dürfen.«
»Macht Euch keine Sorgen«, versuchte Tarratar die sprachlosen Streiter zu trösten, »findet das Buch der Macht, dann wird alles wieder so sein wie vorher und nicht einmal eine Sonnenwende wird vergangen sein.«
»Bedeutet das, Ihr werdet die verlorene Zeit zurückdrehen?«, hakte Sapius
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