Kryson 06 - Tag und Nacht
heiligen Hallen der Saijkalrae«, sagte der weiße Schäfer, »wir haben die Saijkalsan zu einer Versammlung gerufen, um das Ritual der Beseelung gemeinsam zu begehen.«
Die Gescheiterten lösten den Kreis um die magischen Brüder auf und machten ihnen Platz für den Rückweg über die Treppe. Der dunkle Hirte war froh, diesen Ort der Finsternis schnell wieder verlassen zu können. Er und Saijkal hatten erreicht, was sie wollten. Die Gescheiterten konnten entfesselt werden.
Die Gespräche und das Getuschel in den heiligen Hallen verstummten, als die magischen Brüder von den Gescheiterten zurückkehrten. Eine angespannte Stimmung herrschte unter den Saijkalsan, die wie knisternde Magie in der Luft der Hallen hing. Es stank nach Tod. Der dunkle Hirte spürte die Energie, die ihm wie tausend Spinnen über den Körper lief. Die Saijkalsan störten sich an den zahlreichen aufgestapelten Leichnamen, die einen großen Teil der Hallen einnahmen. Sie hielten einen Abstand zu den Leichenbergen ein und drängten sich in den Hallen zusammen.
»Sie werden kommen«, rief Saijrae den Saijkalsan zu, »lasst ihnen Zeit. Die Gescheiterten sind nicht mehr so gut auf den Beinen und werden eine Weile für den Weg brauchen. Wir wollen sie willkommen heißen, als wären sie Brüder und Schwestern und nicht gescheitert. Vergessen soll ihr Versagen sein. Sie waren einst Saijkalsan, so wie ihr heute Saijkalsan seid und euch unserer Macht bedient. Manche waren besser und stärker als ihr. Vergesst das nie. Wir werden die Gescheiterten entfesseln, ihnen ein neues Leben und die Freiheit schenken.«
»Wo habt Ihr die vielen Kadaver für die Beseelung gefunden, Herr«, wollte einer der Saijkalsan mit zitternder Stimme wissen.
»Es herrscht Krieg auf Ell. Eigentlich herrscht immer irgendwo Krieg zwischen den Völkern. In Tut-El-Baya sterben die Nno-bei-Klan wie die Fliegen. Auf dem Schlachtfeld, in der Sklaverei und unter der Tyrannei des Schattenpraisters Thezael werden täglich zahlreiche Klan für ihren vermeintlichen Verrat an den Praistern hingerichtet. Es ist heutzutage wirklich nicht schwer, frische Leichen zu finden.«
»Werden Euch die Entfesselten folgen oder wollen sie sich an den Saijkalrae rächen?«, wollte ein anderer Saijkalsan wissen.
Der dunkle Hirte zögerte mit einer Antwort. Er war sich nicht sicher, ob die Drohung ausgereicht hatte, die er gegenüber den Gescheiterten ausgesprochen hatte. Vielleicht würden sie Saijkal und ihm folgen. Aber womöglich würden sie die neu gewonnene Freiheit nutzen und sich gegen die magischen Brüder auflehnen. Saijkal und er mussten sich vorsehen. Haisan und Hofna würden die Gescheiterten führen und in Zaum halten müssen. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Saijkal kam ihm mit einer Antwort zuvor.
»Die Gescheiterten werden gehorchen«, behauptete der weiße Schäfer, »wenden sie sich gegen uns, werden sie erneut scheitern. Dieses Mal jedoch endgültig. Sie wissen um diese letzte Gelegenheit.«
Eine Saijkalsan-Hexe schob sich durch die dicht aneinandergedrängten Saijkalsan vor. Ihr Gesicht war von einem Schleier bedeckt. Sie trug einen Stab bei sich, mit dem sich sich energisch Platz schaffte. Als sie bis zu den magischen Brüdern vorgedrungen war, erhob sie ihre krächzende Stimme.
»Worüber reden wir hier? Auflehnung? Gehorsam? Es geht ausschließlich um eine Erweckung. Und das dürft Ihr nicht!«, rief sie erregt. »Die Toten mit den Geistern der Gescheiterten zu beseelen und wiederauferstehen zu lassen, ist ein Frevel wider die Schöpfung. Ein Eingriff in das Gleichgewicht. Das ist böse Magie. Wagt es nicht! Die Folgen wären furchtbar.«
Ein Raunen ging durch die Menge der Saijkalsan. Sie begannen erneut zu flüstern und zu tuscheln.
»Was willst du, Weib?« Saijrae kniff die Augen zusammen, um die Hexe besser erkennen zu können, was ihm durch den Schleier nicht gelang. »Beabsichtigst du, die Saijkalsan gegen uns aufzustacheln? Möchtest du die Beseelung der Toten verhindern? Wer bist du? Gib dich zu erkennen!«
»Ich bin eine Orna«, sagte die Hexe, »Ihr kennt meinen Namen, Herr. Ayale. Ich habe nicht vor, die Saijkalsan gegen Euch aufzubringen. Gewiss nicht. Aber ich will Euch zur Vernunft rufen.«
»Ayale!«, rief der weiße Schäfer. »Warum kamst du zu uns? Du bist eine Orna und bräuchtest keinen Zugang zu den Saijkalrae. Du kamst aus freien Stücken.«
»Das ist wahr!«, gab Ayale zu. »Aber ich glaubte an die Saijkalrae und ihre Aufgabe zur Wahrung des
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