Kryson 06 - Tag und Nacht
Totenbeschwörer musste sich konzentrieren und durfte keinen Fehler während des Rituals machen. Scheiterte die Erweckung oder wurden die Worte falsch, unvollständig oder nicht in der vorgesehenen Reihenfolge ausgesprochen, schlug der Fluch auf den Totenerwecker zurück. Er lief Gefahr, seinen Verstand und sein Leben zu verlieren, oder er schuf eine schreckliche Kreatur, die er nicht mehr steuern konnte und die sich im schlimmsten Fall gegen ihn wandte. Selbst für die magischen Brüder stellte das Ritual der Beseelung eine Herausforderung dar.
»Kaj nekror mort nach tar.«
Die ersten Körper begannen zu zucken. Es waren unkontrollierte, geistlose Bewegungen. Finger und Hände tasteten wie blind. Münder öffneten sich zu stummen Schreien. Augen klappten auf und starrten leer und tot in die Hallen. Einige Kadaver bäumten sich stöhnend auf. Dumpfe Schreie ertönten. Furchtsam wichen die Saijkalsan zurück und drängten sich in einem möglichst weiten Abstand von den magischen Brüdern und den zuckenden, zappelnden Kadavern in den heiligen Hallen zusammen.
»Nekror paykra mort la rar.«
Fasziniert und zugleich angewidert beobachtete der dunkle Hirte die sich bewegenden Leichen, während er die frevlerischen Worte des Rituals sprach.
»Kaj hachrar mort ta var … kaj nekror mort nach tar … nekror paykra mort la rar«, wiederholten die magischen Brüder den Spruch der Erweckung.
Saijrae blickte zu den Gescheiterten, die wie gebannt auf die lebenden Toten starrten, in deren Körpern sie bald über Ell wandeln sollten. Das Ritual hatte ihn Kraft gekostet. Er sah zu seinem Bruder, auf dessen Stirn sich weiße Schweißtropfen gebildet hatten.
»Es wird Zeit für die Beseelung«, sagte der weiße Schäfer erschöpft, »die Körper sind bereit, den Geist der Gescheiterten aufzunehmen. Wir müssen uns beeilen, solange das Ritual wirkt.«
»Sprich die Worte«, meinte Saijrae.
»Hendra gas de lej vandra mee«, rief Saijkal in den Raum.
Ein Geist nach dem anderen schlüpfte in die wartenden Körper und erweckte die Toten zu neuem Leben. Unnatürlichem Leben, das einem raschen Verfall ausgesetzt war, wenn sich die mithilfe des Rituals Beseelten nicht bald von den Lebenden nährten. Die Entfesselten erhoben sich langsam und schlurften gebeugt und ungelenk in die Mitte der heiligen Hallen. Sie mussten erst wieder lernen, wie sie Muskeln und Nerven der neuen Körper kontrollieren konnten.
»Geht nach Ell und holt das Buch der Macht für uns«, befahl ihnen der dunkle Hirte.
»Geht und kämpft für die Saijkalrae. Ihr dürft nicht noch einmal scheitern. Beweist eure Treue und Liebe zu den magischen Brüdern«, gab ihnen der weiße Schäfer mit auf den Weg.
»Hofna, Haisan … ihr werdet die Entfesselten aus den heiligen Hallen nach Ell und in die Schlacht führen«, wies Saijrae die beiden Leibwächter an.
»Sehr wohl«, antworteten Haisan und Hofna mit einer Stimme.
»Und denkt daran, wenn ihr nicht sehr bald Erfolg habt, wird die Zeit knapp«, wies der weiße Schäfer auf die Verwesung der Körper hin, »nährt euch vom Fleisch der Lebenden, sollte der Verfall voranschreiten. Euer Geist wird mit dem Körper vergehen. Hütet euch davor, es zu weit kommen zu lassen.«
»Wir führen die Entfesselten von Zeit zu Zeit durch Dörfer und Städte der Klan. Dort können sie sich nähren«, meinte Hofna.
»Gut«, sagte der dunkle Hirte, »wir erwarten Euch bald zurück. Mithilfe des Buches werden wir Kryson beherrschen.«
Haisan und Hofna verneigten sich vor den magischen Brüdern und führten die Entfesselten, die ihnen stöhnend, wankend und schlurfend folgten, aus den Hallen.
Der dunkle Hirte verfolgte ihren Weg durch das magische Auge in den heiligen Hallen.
»Sieh sie dir an, Bruder. Wie langsam und ungeschickt die Entfesselten doch sind. Ich bezweifle, dass sie stark genug sein werden, das Buch zu erobern«, sagte Saijrae zu seinem Bruder.
»Nur Geduld«, antwortete Saijkal, »du darfst nicht vergessen, wie lange sie in der Finsternis hausten und sich nur kriechend fortbewegt haben. Die Körper sind noch steif. Das wird sich mit der Bewegung legen. Haisan und Hofna wissen, was sie zu tun haben und werden sie auf einem strammen Marsch halten. Die Entfesselten werden sich bald an ihre neuen Körper gewöhnen und ihre Stärken entdecken. Du wirst schon sehen, wie stark und gefährlich sie sind. Die Entfesselten sind wie eine Seuche. Sie bringen Fluch, Tod und Verderben über Ell. Wir müssen sie beseitigen, sobald
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