Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer
ihre zahlreiche Verwandtschaft in Odessa besuchen. Ich hatte aber keine Lust auf Verwandtschaftsbesuche. Am Vormittag fuhr ich mit dem Bus zum Strand, Sonne tanken, am Nachmittag saß ich mit Oma auf dem Balkon – und aß.
Odessa war zwar ein Kurort, bei vielen Touristen beliebt, aber kein Nizza. In den Lebensmittelläden der Stadt gab es damals gar nichts, die sozialistische Versorgung hatte hier völlig versagt. Alle kauften auf dem Markt ein. Außerdem kamen täglich aus den umliegenden Dörfern und Kolchosen Bauern in die Stadt. Sie fuhren mit großen LKWs von Haus zu Haus und boten Lebensmittel direkt vom Feld an: klitzekleine Frühkartoffeln und riesengroße violette Tomaten der Sorte »Bullenherz«.
Wenn ein solcher Wagen bei uns auf den Hof fuhr und hupte, gingen die Bewohner mit ihren Körbchen nach unten und verhandelten mit den Bauern den Preis ihrer Waren mit einer Hingabe, die einen besseren Anlass verdient hätte. In der Dämmerung saßen dann alle Hausbewohner auf ihren Baikonen, brieten auf kleinen Elektroplatten die Frühkartoffeln mit Speck, aßen dazu ihre Bullenherz-Tomaten und tranken Wein.
Das ganze Haus roch, brummte, schmalzte und brutzelte wie der Speck in der Pfanne. Dabei führten die Nachbarn laute Gespräche von Balkon zu Balkon. Die Odessiten waren kommunikativ und offen, wie Kinder kamen sie mir vor. Wenn ich zum Strand fuhr oder durch die Stadt spazierte, sprachen mich ständig Fremde auf der Straße an. Ihre Fragen hatten keinen praktischen Sinn. Ob ich den Film gestern im Ersten gesehen hätte, fragte mich plötzlich der Busfahrer. Und was ich von der Ernte dieses Jahr hielte, die Schaffnerin. Ein Fremder sagte zu mir in der Schlange, ich würde ihn an seinen längst verstorbenen Bruder erinnern und was ich dazu meinte? Es waren seltsame Fragen, für Moskauer Verhältnisse unvorstellbar.
Auch auf den Baikonen konnten sie nicht still sitzen. »Haben Sie heute die Abendzeitung schon gelesen?«, rief zum Beispiel jemand vom ersten Stock.
»Nein, noch nicht. Was stand denn da?«, antwortete eine Stimme aus dem fünften.
Daraufhin bekam das ganze Haus die gesamte Abendzeitung laut nacherzählt. Danach verteilte man sein frisch erworbenes Obst mit Körben von Balkon zu Balkon. Die Odessiten waren schon immer besonders stolz auf ihre Früchte gewesen. In jedem Sommer wurden auf den Märkten Aprikosen, Kirschen und Äpfel eimerweise zu einem Spottpreis angeboten.
Im April 1986 ereignete sich auf ukrainischem Territorium eine der schrecklichsten Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts – die Havarie des Tschernobyl-AKWs. Das war das Ende der Früchtemanie. Ein Jahr davor war meine Oma gestorben. Seitdem habe ich Odessa nicht mehr besucht.
Die Besonderheiten der ukrainischen Hochzeit
»Das ist doch keine ukrainische Küche«, regte sich meine Nachbarin Genia auf, als ich ihr vom Frühkartoffelbraten auf den Baikonen Odessas erzählte. Genia lebt seit über zehn Jahren in Deutschland, trotzdem hat sie sich noch nicht ganz integriert. Statt wie alle Deutschen nach Mallorca, Teneriffa oder Indien in den Urlaub zu fahren, zieht sie es vor, ihre ganze Freizeit bei ihren Großeltern in dem kleinen westukrainischen Dorf Sagorow, »Hinterm Berg«, zu verbringen. Genia selbst ist in der ukrainischen Industriestadt Charkow aufgewachsen, wo die ukrainische Küche nicht wirklich präsent war. Wir haben uns ausgetauscht: Die Charkower aßen genau das Gleiche, was auch in den russischen Großstädten gekocht wurde. Im Kindergarten gab es Kascha (BuchweizenGrießbrei), Käsekuchen und Würstchen mit Kartoffelpüree, später in der Schule und in der Universitätskantine Buletten und Dorsch. Aber auf dem Land, in dem Dorf Sagorow, wo die Menschen Zwiebeln wie Äpfel zum Frühstück vernaschen, hätten die alten geheimen Rezepte der ukrainischen Küche noch Gültigkeit, meinte Genia.
Das Dorf ihrer Oma ist gut vor Globalisierung und Zivilisierung geschützt. Es gibt keine Fluglinien, keine Zugverbindungen und keine Busse, die dorthin fahren. Es ist auch auf keiner Karte eingezeichnet und wird in keinem Reiseführer erwähnt. Nur wenige Einheimische kennen den Weg dorthin durch den Wald und über die Felder. Ein Fremder hat keine Chance, dieses Dorf zu finden, es sei denn, er wird von Einheimischen vom Bahnhof in Lugansk mit dem Traktor abgeholt.
Im Alltag haben die Einheimischen keine Zeit für die Zubereitung kulinarischer Genüsse. Sie müssen Kartoffeln und Tomaten pflanzen, Kühe melken und
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