Kuehler Grund
und nachdem sie bei der Nummer wohl nicht ganz auf ihre Kosten gekommen war, fielen ihr plötzlich solche Sachen wie Schwangerschaft und AIDS wieder ein. Von wütenden Eltern ganz zu schweigen.«
»Sie ist in Panik geraten?«
»Ja, angeregt durch halb verdauten Aufklärungsunterricht und eine blühende Phantasie. Nach allem, was in letzter Zeit in der Zeitung stand, fiel ihr nichts Besseres ein, als Vergewaltigung zu schreien.«
»Das soll schon vorgekommen sein.«
Fry zuckte die Achseln. »Wir wissen doch alle, dass es mehr erfundene Vergewaltigungen gibt als echte. Ihr Freund ist übrigens fünfzehn.«
»Aber wie kam sie ausgerechnet auf Harry?«
»Anscheinend waren die beiden früher am Tag in einem Laden aneinander geraten. Harry war dabei der Sieger nach Punkten, und das hatte sie ihm nicht verziehen. Und nach dem ganzen Gerede im Dorf dachte sie wohl, dass man ihr die Geschichte abkaufen würde. Jedenfalls hat sie gesagt, er wäre ein fieser alter Knacker und hätte es nicht besser verdient. Komisch, auf was einige manchmal kommen.«
»Was hat sie eigentlich genau gesagt, als der Kollege sie gefunden hat?«
»Wenn ich mich recht erinnere, hat sie gesagt: ›Es war der alte Mann.‹«
Cooper nickte, er war nicht überrascht. »Es war der alte Mann.« Er dachte an die alten Geschichten der Bergarbeiter aus den Bleiminen über den Berggeist, der in den unbeleuchteten Stollen sein Unwesen trieb und den sie den »alten Mann« nannten. Der »alte Mann« hatte an allem Schuld, was in einer Grube schief ging, von unerklärlichen Geräuschen in der Dunkelheit bis zu tauben Adern und tödlichen Unfällen. Aber er war auch ein Schutzgeist, die kollektive Seele aller längst verstorbenen Bergleute und des Bergwerkes selbst. Was das Mädchen gesagt hatte, war ein Echo jener Legende. »Es war der alte Mann, der alte Mann.« Ein uraltes Mantra des Aberglaubens.
»Jetzt haben wir sie wegen Vortäuschung einer Vergewaltigung in den Akten. Die dumme Gans. Wir haben sie nach Hause geschickt, mit der Pille für den Morgen danach. Eine Kollegin ist mitgegangen, um mit den Eltern zu reden. Sollen sie sehen, wie sie mit ihr fertig werden.«
»Und Harry?«, fragte Cooper.
»Wieso?«
»Wie hat er das Ganze verkraftet?«
»Der? Der kommt schon darüber hinweg. Der ist zäh wie Leder, wenn du mich fragst. Und viel zu stolz für sein Alter. Wieso machst du dir Sorgen um ihn?«
»Es ist nicht gerade angenehm, als Vergewaltiger festgenommen zu werden.«
Fry zuckte mit den Schultern. »Sein Pech.«
»Hat es jemand Gwen erklärt?«
»Das soll er ihr ruhig selbst erklären.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Cooper nachdenklich. »Ich glaube nicht, dass er irgendwelche Erklärungen abgeben wird.«
»Wie ich schon sagte, viel zu stolz.«
»Aber da steckt noch mehr dahinter. Ich glaube, er will möglichst viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Einer von den Kollegen, die ihn festgenommen haben, hat gesagt, dass es so aussah, als ob er sie erwartet hätte. Er war bereit. Er hat sie mit den Worten begrüßt: ›Das ging ja schnelle. Warum sollte er so etwas sagen?«
Fry stellte bedächtig ihre Kaffeetasse ab. »Du denkst wieder an deine Verbindungslinien, nicht wahr, Ben? Hast du die Zeichnung noch?«
»Ja.«
Er breitete die Skizze auf dem Tisch aus und strich sie glatt.
»Ich habe es Mr. Tailby aufgezeichnet, nachdem wir Dickinson wieder in seine Zelle zurückgeschickt hatten«, sagte Fry.
»Wirklich? Und?«
»Ich habe ihm erzählt, was du gesagt hast. Dass der alte Mann aus Familiensinn den Täter decken würde. Aber wer könnte das sein? Das ist die Frage. Darin war Mr. Tailby ganz deiner Meinung.«
Cooper beobachtete sie gespannt.
»Aber er ist überzeugt, dass er nicht Simeon Holmes deckt«, sagte sie.
Er seufzte und ließ die Schultern hängen. »Das hatte ich befürchtet«, sagte er.
Er trank seinen Kaffee aus. Es wurde Zeit, sich wieder seinen Autodiebstählen zu widmen.
»Diane, würdest du mir einen Gefallen tun?«
Fast hätte sie gesagt »noch einen«, aber sie verkniff es sich. »Was denn?«
»Rede noch einmal mit dem Vogelfreund.«
Sie seufzte. »Du bist ja regelrecht besessen von dem Mann.«
Cooper brachte es kaum über die Lippen, aber es ging nicht anders. Es war ihm einfach zu wichtig.
»Bitte, Diane.«
In den letzten Tagen hatte die Stimmung in der Villa ständig gewechselt, und Graham Vernon hatte sich mit allen erdenklichen Emotionen konfrontiert gesehen. Nur positive hatte
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