Kuehles Grab
siebenjährigen Mädchen heimlich nachzustellen. Es war unheimlich, ja, aber keine kriminelle Tat.«
»Das ist lächerlich!«
»Ihr Vater war offenbar derselben Ansicht, weil Ihre Familie wenige Wochen nach diesem letzten Zwischenfall spurlos verschwand. Und kurze Zeit später«, fügte Bobby leise hinzu, »wurde Dori Petracelli aus dem Garten ihrer Großeltern in Lawrence entführt. Sind Sie sicher, dass Sie nichts davon wissen?«
»Ich habe im Internet recherchiert«, erwiderte Annabelle knapp. »Gestern Abend. Ich dachte, Sie würden mir nicht weiterhelfen. Detectives beantworten ihre eigenen Fragen, nicht die anderer Leute. Deshalb habe ich selbst nachgeforscht. Haben Sie Doris Foto gesehen, das in der ganzen Stadt verteilt wurde?«
Bobby schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie!« Annabelle ging an ihm vorbei zu dem Tisch. Bobby sah den Laptop unter einem Papierstapel.
Annabelle fegte die Papiere beiseite, öffnete den Laptop, und der Bildschirm erwachte zum Leben. Nach ein paar Mausklicks erschien ein Foto von Dori Petracelli.
»Sehen Sie genau hin! Dori trägt das Medaillon um den Hals.«
Bobby kniff die Augen zusammen und beugte sich näher. Das Foto war körnig, schwarzweiß, aber wenn man ganz genau hinschaute … Er seufzte. Falls er noch Zweifel gehabt hatte, waren sie nun beseitigt.
»Auf der Website ist zu lesen, dass dieses Foto eine Woche vor Doris Verschwinden aufgenommen wurde. Ich wette, das hat ihm gefallen, es hat ihn angemacht. All die Artikel in den Zeitungen, ihr Foto im Fernsehen – sie mit dem Medaillon. Die Eltern, die den Entführer anflehten, ihrer Tochter nichts anzutun und sie freizulassen. Solche Täter verfolgen die Nachrichten über ihr Verbrechen, nicht wahr? Sie lieben es, wenn sie erfahren, wie clever sie vorgegangen sind.«
Annabelle wandte sich ab und machte ein paar schnelle Schritte.
Bobby richtete sich auf und sah ihr ins Gesicht. »Woran erinnern Sie sich, Annabelle …«
»Nennen Sie mich nicht so! Sie dürfen meinen echten Namen nicht benutzen. Ich bin Tanya.«
»Warum? Das alles ist fünfundzwanzig Jahre her. Wovor fürchten Sie sich heute noch?«
»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? Ich habe mich in all den Jahren daran gewöhnt, dass mein Vater im Rhythmus eines paranoiden Schlagzeugers tanzte. Und jetzt sagen Sie mir, dass seine Angst berechtigt war. Was soll ich damit anfangen? Irgendein Kerl hat mich verfolgt und beobachtet, und ich wusste nichts davon. Dann bin ich abgehauen, und er … schnappte sich meine beste Freundin und …«
Sie presste die Hand auf den Mund und schlang den anderen Arm schützend um ihre Taille. Bella sah auf, winselte und wedelte mit dem Schwanz.
»Tut mir leid, mein Mädchen«, flüsterte Annabelle.
Bobby ließ ihr Zeit, bis sie die Fassung zurückgewann, das Kinn anhob und die Schultern straffte. Er verstand den Vater immer noch nicht und hatte eine Menge Fragen. Doch allem Anschein nach hatte Russell Granger seine Tochter richtig erzogen. Nach fünfundzwanzig Jahren war sie ein echt zähes Mädchen.
Die Türglocke summte, und Annabelle zuckte erschrocken zusammen.
»Was, um alles …«, begann sie nervös. »Ich bekomme nicht viel …« Sie lief zum Fenster und spähte auf die Straße, um nachzusehen, wer bei ihr geklingelt hatte. Bobby hatte bereits die Hand unter dem Jackett und legte die Finger um den Revolvergriff. Doch die Anspannung verflog so schnell, wie sie gekommen war. Annabelle entdeckte den UPS-Lieferwagen und lächelte.
»Bella«, rief sie, »es ist dein Freund.«
Annabelle beschäftigte sich mit den Riegeln, während Bella aufgeregt an der Tür kratzte.
»Ein Freund?«, fragte Bobby nach.
»Ben, der UPS-Fahrer. Er und Bella sind ein Herz und eine Seele. Ich bestelle, er liefert, und Bella bekommt Hundekuchen von ihm. Ich weiß, dass Hunde farbenblind sind, aber selbst wenn Bella einen Regenbogen sehen könnte, wäre ihre Lieblingsfarbe braun.«
Annabelle hatte endlich die Tür entsichert und öffnete sie. Ihr Hund überrannte sie fast.
»Bin gleich zurück«, rief Annabelle über die Schulter und lief ihrem Hund nach die Treppe hinunter.
Die Unterbrechung bot Bobby die Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen. Allmählich hatte er eine ziemlich gute Vorstellung davon, was für ein Leben Annabelle führte. Isoliert. Auf Sicherheit bedacht. Abgeschieden. Sie kaufte über Internet oder Mail-Order-Katalog ein. Die beste Freundin war ihr Hund. Der einzige Kontakt zu Mitmenschen kam zustande, wenn sie den
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