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Kuehles Grab

Titel: Kuehles Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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hören und befeuchtete ihre Kehle mit einem Schluck Tee.
    Eine ganze Weile sagte ich nichts und betrachtete Catherine – eine Frau, die auf ihr Aussehen, ihre sexuelle Wirkung größten Wert legte, obschon ich überzeugt war, dass sie in den letzten siebenundzwanzig Jahren nicht das Geringste empfunden hatte.
    War das das Schicksal, dem ich knapp entronnen war, als sich mein Vater zur Flucht entschloss? Und wenn es so war, wieso war ich dann nicht wirklich erleichtert? Weil ich die meiste Zeit Traurigkeit in mir spürte. Die Welt war grausam. Erwachsene Männer machten Jagd auf kleine Kinder. Die Menschen betrogen jene, die sie liebten. Was einmal passiert war, konnte nicht ungeschehen gemacht werden.
    Als könnte sie meine Gedanken lesen, hob Catherine den Kopf und sah mir in die Augen. »Warum sind Sie hier, Annabelle?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Richard war nicht Ihr Stalker. Als Sie sieben waren, war er bereits zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und saß im Gefängnis. Außerdem ging es in Richards Phantasien um Einschüchterung und Macht. Er war nicht raffiniert genug, um seine Opfer heimlich zu beobachten und zu verfolgen.«
    »Sie waren erst zwölf Jahre alt; es war nicht Ihre Schuld.«
    Sie lächelte aufrichtig. »Sie denken, das weiß ich nicht?«
    »Und Sie haben überlebt.«
    Sie lachte übertrieben laut. Einige andere Gäste drehten sich zu ihr um. »Sie glauben, ich habe überlebt? O Annabelle, Sie sind einfach wunderbar. Kommen Sie, Sie waren mit sieben Jahren selbst eine Zielscheibe – sicherlich haben Sie etwas daraus gelernt.«
    »Ich bin Expertin im Kickboxen geworden«, erwiderte ich steif. »Mein Vater hat mir Selbstverteidigungstaktiken beigebracht, mir Sicherheitsmaßnahmen eingeschärft, mich gelehrt, wann ich weglaufen und wann ich kämpfen muss. Ich wuchs mit einem Dutzend falscher Identitäten auf und lebte in ebenso vielen verschiedenen Städten. Glauben Sie mir, ich weiß, wie ernst das alles ist.«
    »Ihr Vater hat Sie trainiert?« Wieder die hochgezogene Augenbraue.
    »Ja.«
    »Der Akademiker vom Massachusetts Institute?«
    »Genau der.«
    »Und warum wusste Ihr Vater über Verbrechensverhütung und Selbstverteidigung so gut Bescheid?«
    Achselzuckend antwortete ich: »Not macht erfinderisch. Heißt es nicht so?«
    Catherine betrachtete mich gedankenverloren. »Warten Sie«, rief sie, als sie merkte, dass ich ärgerlich wurde. »Ich mache mich nicht über Sie lustig. Ich möchte nur verstehen. Als das alles passierte, hat Ihr Vater …«
    »Er ist mit uns nach Florida gezogen. Wir packten unsere Koffer, luden sie am helllichten Tag ins Auto und verschwanden.«
    »Mit falschem Namen und allem Drum und Dran?«
    »Es gibt keine andere Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Und deshalb sollten Sie mich auch mit Tanya ansprechen.«
    Sie winkte unbekümmert ab. »Und hat Ihr Vater einen Job an einer Universität in Florida bekommen?«
    »Nein. Ein Mensch mit falschen Papieren bekommt selten eine solche Anstellung. Er fuhr Taxi.«
    »Und Ihre Mutter?«
    »Einmal Hausfrau, immer Hausfrau.«
    »Und sie hat nicht protestiert? Nicht versucht, ihn aufzuhalten? Ihre Eltern haben all das für Sie getan?«
    Catherine verwirrte mich immer mehr. »Natürlich. Was hätten sie sonst machen sollen?«
    Sie lehnte sich zurück und nahm die Tasse in die Hand. Sie zitterte so sehr, dass ein wenig Tee überschwappte.
    »Meine Eltern haben nie über das, was mir passiert war, gesprochen«, sagte sie unvermittelt. »Von einem Tag auf den anderen war ich weg. Und nach einem knappen Monat kam ich zurück. Über die Zeit dazwischen haben wir nie ein Wort verloren. Es war, als wären die achtundzwanzig Tage nur ein unbedeutendes Augenzwinkern gewesen – ein Wimpernschlag, den man am besten schnell vergisst. Wir wohnten weiterhin im selben Haus. Ich besuchte dieselbe Schule. Und meine Eltern führten dasselbe Leben. Das verzeihe ich ihnen nie. Ich kann ihnen nicht vergeben, dass sie imstande waren, weiterzuleben, zu funktionieren, während jede Faser meines Seins so schmerzte, dass ich am liebsten eigenhändig das ganze Haus Stück für Stück eingerissen hätte. Ich wollte mir selbst die Augen ausstechen, sehnte mich danach, zu schreien und zu brüllen, brachte aber keinen Laut heraus. Ich hasste das Haus, Annabelle. Ich hasste meine Eltern, weil sie mich nicht beschützt haben. Und ich hasste jedes einzelne Kind in der Schule, das am zweiundzwanzigsten Oktober unbeschadet und gesund nach Hause

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