Kuehles Grab
nicht einmal in den Personalakten des Massachusetts Institute, Unterlagen auf diesen Namen.«
Mir verschlug es die Sprache. »Aber …«
»Annabelle, sagen Sie mir, was im Herbst 1982 vor sich ging. Liefern Sie mir etwas, was ich glauben kann.«
Ich verstand das nicht. Wieso gab es keine Einträge und Akten über Russell Granger? Arlington war doch mein echtes Zuhause, oder nicht? Im Jahr 1982 hatte ich zumindest in Arlington gelebt.
Bobby nahm meine Hände. Erst da merkte ich, dass ich zitterte und schwankte. Bella auf ihrem Lager gab ein leises Wimmern von sich. Wieder musste ich an meinen Vater denken, an das Flüstern mitten in der Nacht. An Dinge, die ich nicht wissen wollte. An Wahrheiten, die unerträglich für mich wären.
O Gott, was war im Herbst 1982 wirklich passiert? O Dori, was haben wir getan?
»Annabelle«, befahl Bobby sanft. »Atmen Sie langsamer! Sie hyperventilieren.«
Ich gehorchte, senkte den Kopf und starrte auf den verkratzten Holzboden, während ich nach Luft rang. Sobald ich mich wieder aufrichtete, legte Bobby die Arme um mich, und ich sank gegen ihn. Ich roch sein Aftershave. Seine warmen, festen Arme umschlangen meine Schultern. Sein regelmäßiger Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Und ich klammerte mich an ihn wie ein Kind. Ich schämte mich und wusste, dass ich mich zusammenreißen musste, aber ich sehnte mich verzweifelt nach Geborgenheit.
Falls es nie einen Russell Granger gegeben hatte, was war dann mit Annabelle? Und wieso hatte ich geglaubt, dass der Umzug nach Florida die erste Lüge meines Vaters gewesen war?
»Ruhig«, zischte Bobby mir ins Ohr. »Ruhig …« Seine Lippen berührten mein Haar – ein kleiner, gedankenloser Kuss. Das genügte mir nicht. Ich hob den Kopf und fand seinen Mund.
Der erste Kontakt war elektrisierend. Weiche Lippen, kratzige Bartstoppeln. Empfindungen, die ich mir selten gestattete. Bedürfnisse, die ich meistens unterdrückte. Ich öffnete den Mund, sog seine Zunge ein. Ich wollte ihn spüren, berühren, schmecken. Ich wollte mich daran aufrichten, die Angst verdrängen, die immer in meinem Bewusstsein lauerte.
Wenn ich ihn nur festhalten könnte, würde dieser Moment andauern, und der Rest fiele von mir ab. Ich hätte keine Angst mehr, würde mich nie mehr allein fühlen und müsste die Stimmen nicht hören, die sich in meinem Kopf meldeten …
»Roger, bitte geh nicht. Roger, ich flehe dich an, bitte tu das nicht …«
Im nächsten Augenblick schob mich Bobby von sich, und ich drehte mich weg. Wir zogen uns in entgegengesetzte Winkel meiner kleinen Küche zurück, atmeten beide schwer und vermieden jeden Blickkontakt. Bella erhob sich von ihrem Bett und drückte sich ängstlich an mich. Ich bückte mich, streichelte sie und konzentrierte mich auf das weiche Fell in ihrem Gesicht.
Minuten vergingen. Ich nutzte die Zeit, um meine Fassung zurückzuerlangen. Hätte Bobby nur einen Schritt getan, hätte ich mich ergeben. Doch gleich danach hätte ich mich zurückgezogen, mich hinter der Fassade versteckt, die ich über Jahre perfektioniert hatte.
Wieder wurde mir bewusst, dass meine Mutter nicht das einzige Opfer im Krieg meines Vaters gewesen war. Er hatte auch mir etwas genommen, und ich wusste nicht, wie ich es mir zurückholen konnte.
»Was ist mit meiner Mutter?«, fragte ich plötzlich. »Leslie Ann Granger. Vielleicht haben meine Eltern alles auf ihren Namen angemeldet.«
»Annabelle, ich habe auch den Namen deiner Mutter gesucht und nichts gefunden.«
»Aber es hat uns gegeben«, beharrte ich matt, streichelte Bella und spürte den beruhigenden Druck ihres Kopfes, der sich an meine Hand presste. »Wir hatten Umgang mit den Nachbarn, eine Stellung in der Gesellschaft. Ich ging zur Schule, mein Vater hatte einen Job, meine Mutter war im Elternbeirat. Das alles ist Wirklichkeit. Ich habe das alles noch im Gedächtnis. Arlington ist kein Gebilde meiner Phantasie.«
»Und was war vor Arlington?«
»Ich … ich weiß es nicht. Daran habe ich keine Erinnerung.«
»Das ist etwas, was wir die Nachbarn fragen müssen«, sagte er.
»Ja, vermutlich.«
Bobby hatte sich wieder gefasst. »Ich kann dir nicht sagen, wohin das führen wird«, sagte er. »Sechs Opfer sind sechs Opfer. Wir sind verpflichtet, jede nur erdenkliche Frage zu stellen und allen Hinweisen nachzugehen.«
»Ich weiß.«
»Vielleicht solltest du dich in der nächsten Zeit zurückhalten.«
»Bobby, ich lebe mit einem falschen Namen. Ich habe keine Freunde,
Weitere Kostenlose Bücher