Kühlfach betreten verboten
heute Abend solltest du unbedingt mal wieder mit Gregor ein Bier trinken gehen«, begrüßte ich Martin aufmunternd zum Tagesbeginn.
Doch Martin war mit den Gedanken bei Birgit, die immer noch schlief. Zwei Weckversuche waren bereits fehlgeschlagen. Allerdings war es auch erst sechs Uhr und Birgit hatte gleitende Arbeitszeiten. Dass sie normalerweise mit Martin aufstand, war reine Romantik – und die war jetzt offenbar auch in dieser Beziehung vorbei.
»Ich komme bei der Suche nach der verschwundenen Lehrerin nicht weiter.«
»Verschwundene Lehrerin?«
Martin hatte mal wieder eine geistige Beschleunigung wie ein kasachischer Kieslaster auf der Bergetappe. »Autounfall! Vier Kinder im Koma! Lehrerin verschwunden!«, rief ich ihm ins Gedächtnis.
Er überlegte. Das gestaltete sich zäh, weil sich immer wieder die Sorge um Birgit in sein Hirn drängelte. Außerdem verlangte die Teezeremonie seine Aufmerksamkeit.
»Die Stichworte kommen mir bekannt vor, aber ich kann keine weiteren Details damit verknüpfen«, sagte er schließlich bedächtig.
Eine ziemlich komplizierte Stellungnahme, wenn es auch ein einfaches »Häh?« getan hätte.
Ich erklärte ihm die ganze Geschichte noch einmal und jetzt in allen Details einschließlich meiner bisherigen, in detektivischer Feinarbeit zusammengetragenen Ermittlungserkenntnisse bis zum gestrigen Abend.
»Du kannst dich mit den Kindern unterhalten?«, fragte Martin entsetzt.
»Sag ich doch.«
»Und du nimmst sie mit auf deine Streifzüge?«
»Sie sind meine Assistenten«, erklärte ich, wobei ich mich um einen seriösen Tonfall bemühte.
Meine Bemühungen zeigten wenig Wirkung. »Kinder? Um Himmels willen!« Er war so entsetzt, dass er seine Teedose nicht richtig verschloss. Morgen früh würde er darüber jammern, dass das Aroma gelitten habe.
»Und jetzt brauchen wir deine Hilfe.«
Martin stützte sich mit beiden Händen auf die Küchenarbeitsplatte. »Mein Gott, sie sind tot.«
»Schwachsinn«, rief ich. »Die Bonsais liegen nur in irgendeinem Koma. Der Arzt sagt, dass sie bald wieder völlig gesund aufwachen und weiterleben wie vorher.«
»Aber … kannst du auch andere Geistseelen sehen oder hören von Menschen, die im Koma liegen?«
»Nö.«
»Das muss ich mir ansehen«, entschied Martin, und ich war glücklich. Wenn man es schafft, sein medizinisches Interesse zu wecken, läuft er zu investigativer Höchstform auf.
Wir betraten Edis und Jos Zimmer, in dem Edis Mutter zwischen den beiden Betten saß und aus einem Buch vorlas. Edi und Jo hingen über ihren Körpern, sodass sie Edis Mutter bequem beim Vorlesen zusehen konnten. Die Frau sah ungefähr zehn Jahre älter aus als gestern.
»Entschuldigung, darf ich kurz stören?«, fragte Martin von der Tür her.
Er hatte auf meinen Vorschlag hin einen seiner weißen Kittel übergezogen (auf den weißen ist kein Blut, das ist immer nur auf den grünen und die verlassen den Sektionstrakt nicht), sah also aus wie ein Arzt und schockierte Edis Mutter mit seiner schüchternen Frage derartig, dass sie nicht antwortete, sondern nur eine zittrige Handbewegung zum Bett ihrer Tochter machte.
»Ich würde gern kurz einige Reflextests machen.«
Edis Mutter strich kurz über Edis Hand, zögerte, strich auch über Jos Hand und ging dann in die äußerste Ecke des Zimmers, wo sie sicher nicht stören würde. Das Buch, aus dem sie vorgelesen hatte, presste sie mit beiden Armen fest vor ihre Brust.
Martin fragte mich in Gedanken: »Sind die Kinder jetzt hier?«
»Ja, die Seelchen von den beiden Typen da unten schwirren hier bei mir rum.«
»Redest du über uns?«, fragte Edi nach einer Schrecksekunde. »Mit dem da?«
»Hi Leute, das ist Martin. Habe ich euch schon von ihm erzählt?«
»Was ist?«, fragte Martin.
»Du kannst mit ihm reden?«, fragte Jo ungläubig und umkreiste Martin wie eine Möve die Freiheitsstatue.
»Yep.«
»Geil.«
»Edi und Jo sind hier und sagen Hallo«, erklärte ich Martin.
»Hallo, können Sie mich hören?«, brüllte Edi mir ins Ohr. »Dann sagen Sie meiner Mami, dass ich sie ganz doll lieb habe.«
»Er kann dich nicht …«, sagte ich.
»Und dass es mir gut geht, mir tut gar nichts weh.«
»Edi, er kann dich nicht …«
»Und dass es mir leidtut, dass ich über das Vollkornbrot gemeckert habe. Ich mag Vollkornbrot, echt.« Sie brach in Tränen aus.
Jo versuchte, sie zu trösten, aber Edi verfiel in einen regelrechten Weinkrampf. Der Lärm ging mir furchtbar auf
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