Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Flüchtling extrem wenig Mittel für den Kampf um sein Leben besitzt.
Das Relief der Örtlichkeit ist quälend, wenn man zu Fuß unterwegs ist, Pass folgt auf Pass, Schlucht auf Schlucht. Tierspuren sind kaum wahrzunehmen, der Untergrund des schütteren, hässlichen Tajgawaldes ist nachgiebiges feuchtes Moos. Ohne Lagerfeuer zu schlafen ist riskant – die Tiefenkälte des Dauerfrostbodens lässt die Steine über den Tag nicht warm werden. Nahrung gibt es nicht am Weg – außer trockenem
jagel
, Rentiermoos, das man zerstampfen und, mit Mehl gemischt, zu Fladen backen kann. Mit dem Stock ein Rebhuhn, einen Tannenhäher zu treffen ist eine schwierige Aufgabe. Pilze und Beeren sind schlechte Nahrung für unterwegs. Außerdem gibt es sie am Ende der so kurzen Sommersaison. Also muss der gesamte Nahrungsvorrat mitgenommen werden, aus dem Lager.
Schwierig sind die Wege der Flucht in der Tajga, aber noch schwieriger ist die Vorbereitung darauf. Denn jeden Tag, jede Stunde können die künftigen Flüchtlinge entlarvt, von ihren Kameraden an die Leitung verraten werden. Die Hauptgefahr sind nicht die Begleitposten, nicht die Aufseher, sondern die eigenen Häftlings-Kameraden, jene, die dasselbe Leben wie der Flüchtling leben und vierundzwanzig Stunden am Tag um ihn sind.
Jeder Flüchtling weiß, dass sie ihm nicht nur nicht helfen, wenn sie etwas Verdächtiges bemerken, sondern an dem, was sie sehen, auch nicht gleichmütig vorbeigehen werden. Aus letzten Kräften wird der hungrige, gequälte Häftling zur »Wache« kriechen, laufen, um den Kameraden zu denunzieren und zu entlarven. Das tut er nicht umsonst – der Chef kann ihm Machorka anbieten, ihn loben, Danke sagen. Die eigene Feigheit und Gemeinheit gibt der Denunziant als etwas aus wie seine Pflicht. Nur die Ganoven wird er nicht denunzieren, weil er Angst hat vor einem Messerstich oder dem Erwürgtwerden mit der Schlinge.
Eine Gruppenflucht mit mehr als zwei, drei Beteiligten ist, wenn sie nicht spontan und unerwartet passiert wie eine Meuterei, fast undenkbar. Eine solche Flucht lässt sich nicht vorbereiten wegen der zerstörten und käuflichen, hungrigen, einander hassenden Menschen, die die Lager füllen.
Es ist keineswegs Zufall, dass die einzige vorbereitete Gruppenflucht, wie immer sie ausging, eben darum gelang, weil es in der Lagerabteilung, aus der die Flüchtlinge kamen, keine Kolyma-Veteranen gab, die schon vergiftet und zerstört waren von der Erfahrung der Kolyma, erniedrigt von Hunger, Kälte und Schlägen, weil es keine Leute gab, die die Flüchtigen an die Leitung verraten hätten.
Ilf und Petrow zeigen im »Einstöckigen Amerika« halb scherzhaft, halb ernst den unüberwindlichen Wunsch sich zu beklagen – als nationalen Zug des russischen Menschen, als etwas dem russischen Charakter Eigenes. Dieser nationale Zug, im Zerrspiegel des Lagerlebens entstellt, findet seinen Ausdruck in der Denunziation des Kameraden.
Eine Flucht kann sich ereignen als Improvisation, als Elementarkraft, wie ein Waldbrand. Umso tragischer das Schicksal ihrer Beteiligten – friedlicher Träumer, die zufällig und fast wider Willen in den Strudel der Ereignisse hineingezogen werden.
Keiner von ihnen hat schon mitbekommen, wie tückisch der Herbst an der Kolyma ist, keiner ahnt auch nur, dass der Purpurbrand der Blätter, der Gräser, der Bäume – zwei, drei Tage anhält und aus dem hohen blassblauen Himmel von etwas hellerer Farbe, etwas heller als gewöhnlich, plötzlich feiner kalter Schnee fallen kann. Keiner der Flüchtlinge weiß, wie er die plötzlich auf der Erde ausgebreiteten grünen Zweige des Krummholzes deuten soll, das sich vor den Augen der Flüchtigen an die Erde drückt. Wie er die plötzliche Flucht der Fische bachabwärts deuten soll.
Keiner weiß, ob es in der Tajga Siedlungen gibt. Und was für welche. Die Menschen des Fernen Ostens, die Sibirjaken verlassen sich vergebens auf ihre Tajga-Kenntnis und ihr Talent als Jäger.
Am Ende des Herbsts, eines Nachkriegsherbsts, fuhr ein Fahrzeug, ein offener Lastwagen mit fünfundzwanzig Häftlingen in eines der
katorga
-Lager. Ein paar Dutzend Kilometer vor dem Bestimmungsort stürzten sich die Häftlinge auf den Begleitposten, entwaffneten den Begleitposten und »traten die Flucht an« – alle fünfundzwanzig Mann.
Es fiel Schnee, harter eisiger Schnee, Kleidung hatten die Flüchtlinge nicht. Die Hunde fanden die Spuren schnell – von vier Gruppen, in die sich die Flüchtigen geteilt hatten.
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