Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
um sich nach russischem Brauch auszusöhnen, aber ich wollte mit Schtscherbakow nicht trinken und versicherte ihm, dass ich gegen ihn nichts unternehmen würde.
Schtscherbakow freute sich, entschuldigte sich lange, trat vor meiner Tür hin und her und blieb immer mit dem Absatz am Vorleger hängen, er konnte das Gespräch nicht beenden.
»Es war halt unterwegs, in der Etappe, du verstehst. Wir hatten Flüchtige dabei.«
»Dieses Ende taugt auch nichts«, sagte ich zu Sasonow.
»Dann habe ich noch eins.
Bevor ich den Posten in der Abteilung bekam, in der ich Schtscherbakow wiederbegegnete, traf ich auf der Straße in der Lagersiedlung den Sanitäter Pjotr Sajaz. Den jungen Hünen mit den schwarzen Haaren und den schwarzen Brauen gab es nicht mehr. An seiner Stelle war da ein hinkender, weißhaariger Greis, der Blut hustete. Mich erkannte er nicht einmal, und als ich ihn am Arm nahm und mit seinem Namen ansprach, riss er sich los und ging seines Weges. Und an den Augen konnte ich sehen, dass Sajaz an etwas eigenes, mir Verschlossenes dachte, in dem mein Erscheinen entweder unnötig oder kränkend war für den Hausherrn, der sich mit weniger irdischen Menschen unterhielt.«
»Auch diese Variante taugt nichts«, sagte ich.
»Dann lasse ich die erste. Auch wenn ich sie nicht veröffentlichen kann – es ist leichter, wenn man es aufschreibt. Man schreibt es auf – und kann es vergessen …«
1964
Echo in den Bergen
In der Registratur konnte man einfach keinen Ersten Sachbearbeiter finden. In der Folge, als das Ganze sich ausweitete, wurde dieses Amt von einer ganzen eigenständigen Abteilung übernommen – der »Entlassungsgruppe«. Der Erste Sachbearbeiter gab die Dokumente über die Entlassung von Häftlingen aus und war eine wichtige Figur in einer Welt, in der das ganze Leben auf den Moment ausgerichtet ist, in dem der Häftling das Dokument erhält, das ihm das Recht gibt, kein Häftling zu sein. Der Erste Sachbearbeiter muss selbst ein Häftling sein – so sieht es der sparsame Stellenplan vor. Natürlich kann man so eine freie Stelle auch per Parteianweisung oder über irgendeine gewerkschaftliche Organisation besetzen oder einen Armeekommandeur breitschlagen, der die Armee verlässt, aber die Zeiten waren noch nicht so. Für den Dienst im Lager Interessenten zu finden war – ganz gleich mit welchen Polargehältern – gar nicht so einfach. Der Dienst im Lager galt für Freie noch als schändlich, und in der gesamten Registratur, die alle Akten der Häftlinge verwaltete, arbeitete nur ein einziger Freier – Inspektor Paskewitsch, ein stiller Quartalssäufer. In der Abteilung war er wenig – den größten Teil seiner Zeit verausgabte er für Kurierfahrten, denn das Lager lag, wie es sich gehört, weit von menschlichen Augen entfernt.
Und man konnte einfach keinen Ersten Sachbearbeiter finden. Mal stellte sich heraus, dass der neuernannte Mitarbeiter mit der Welt der Ganoven verbunden war und ihre mysteriösen Aufträge erfüllte. Mal erwies sich, dass der Sachbearbeiter gegen Geld irgendwelche Valutaspekulanten aus dem Süden freiließ. Mal ergab sich, dass der Junge redlich und standhaft, aber ein Tolpatsch und Wirrkopf war und dass er die Falschen entließ.
Die hohen Chefs suchten den Menschen, den sie brauchten, mit aller Energie – denn immerhin galten Fehler bei der Entlassung als das allergrößte Verbrechen und konnten zum schnellen Ende der Karriere des Lagerveteranen, zur »Entlassung aus den Truppen der OGPU« und womöglich noch auf die Anklagebank führen.
Dasselbe Lager, das vor einem Jahr die 4. Abteilung der Solowezker Lager hieß, war jetzt ein selbständiges, wichtiges Lager im Nordural.
Nur einen Ersten Sachbearbeiter gab es einfach nicht in diesem Lager.
Und da kam von Solowki, von der Insel selbst, ein Sonderkonvoj. Das ist eine große Seltenheit für Wischera. Dort gibt es niemand, der mit Sonderkonvoj gebracht wird. Beheizte Pferdewaggons – rote Waggons mit Pritschen darin – oder die bekannten »Klassen-«, die Personenzüge mit vergitterten Fenstern – so wirkt es auch, als schäme sich der Waggon für seine Gitter. Im Süden bauen die Leute aus Furcht vor Dieben Gitter von wunderlicher Form vor ihre Fenster – als Blumen, als Strahlen –, die lebhafte Phantasie der Südländer gibt ihnen diese das Auge des Passanten nicht beleidigenden Formen für die Gitter ein, die dennoch Gitter bleiben. So ist auch der »Klassen-«, der Personenwaggon kein normaler Waggon mehr
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