Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
dass er in dem und dem Jahr von den Roten gemeinsam mit Antonow gefangengenommen wurde und in derselben Nacht floh. Antonow habe ihm nichts gesagt, er aber, als militärischer Spezialist, als zaristischer Offizier, glaube, dass hier ein Verrat seitens des Roten Kommandos stattgefunden habe. Diese wenigen Zeilen aus der Chronik eines wirren und ungeordneten Lebens wurden überprüft. Man fand das Protokoll des Tribunals, bei dem der Chef der Wache Greschnjow sein Jahr auf Bewährung für die falsche Aufstellung der Posten bekommen hatte.
Wo war jetzt Greschnjow? Man schaute in die Armeearchive – längst demobilisiert, lebt in seiner Heimat, in der Landwirtschaft. Er hat eine Frau und drei kleine Kinder in einem Dörfchen bei Krementschug. Greschnjow wird überraschend verhaftet und nach Moskau gebracht.
Hätte man Greschnjow während des Bürgerkriegs verhaftet, wäre er möglicherweise auch in den Tod gegangen, aber hätte seinen Kommandeur nicht verraten. Doch die Zeit vergeht – was bedeuten ihm der Krieg und sein Kommandeur, Stepanow? Er hat drei Kinder wie die Orgelpfeifen, eine junge Frau, und das Leben liegt vor ihm. Greschnjow berichtete, dass er die Bitte Stepanows erfüllt habe, nicht die Bitte vielmehr, sondern einen persönlichen Befehl – dass die Flucht im Interesse der Sache notwendig sei und der Kommandeur verspreche, dass Greschnjow nicht verurteilt werde.
Sie ließen von Greschnjow ab und nahmen sich Stepanow vor. Er wurde vor Gericht gestellt, zum Tod durch Erschießen verurteilt, dieser in zehn Jahre umgewandelt, er wurde auf die Solowezker Inseln gebracht …
Im Sommer 1933 ging ich über die Strastnaja Ploschtschad. Puschkin hatte den Platz noch nicht überschritten und stand am Ende oder eher am Anfang des Twerskoj Bulwar – dort, wo ihn Opekuschin hingestellt hatte, der einen Sinn für den architektonischen Einklang von Stein, Metall und Himmel besaß. Jemand tippte mich von hinten mit dem Stock an. Ich schaute mich um – Stepanow! Er war schon lange frei, arbeitete als Flughafenchef. Der Spazierstock war noch immer derselbe.
»Du hinkst noch immer?«
»Ja. Eine Folge des Skorbuts. Medizinisch nennt sich das Kontraktur.«
<1959>
Berdy Ali As
Eine Anekdote, die sich in ein mythisches Symbol verwandelt hat … Lebendige Realität, denn mit Leutnant Kishe verkehrten die Leute wie mit einem lebendigen Menschen – alles, was uns Jurij Tynjanow so gut erzählt hat, hatte ich lange Zeit nicht als Aufzeichnung einer wahren Geschichte aufgefasst. Die verblüffende Geschichte aus der Paulinischen Zeit war für mich nur ein genialer Witz; der üble Scherz eines müßigen zeitgenössischen Magnaten, der sich, entgegen dem Willen des Autors, in ein höchst prägnantes Zeugnis der Züge einer bemerkenswerten Herrschaft verwandelte. Leskows Wachtposten ist eine Geschichte auf derselben Ebene, die die Kontinuität der Sitten der Selbstherrschaft bestätigt. Aber das bloße Faktum des »Schreibfehlers« des Zaren flößte mir Zweifel ein – bis zum Jahr 1942.
Die Flucht entdeckte Leutnant Kurschakow auf dem Bahnhof von Nowosibirsk. Alle Häftlinge wurden aus den Güterwaggons geholt und unter dem feinen kalten Regen gezählt, nach der Liste mit Artikel und Haftzeit aufgerufen – alles war umsonst. Beim Antreten zu fünft gab es achtunddreißig volle Reihen, und in der neununddreißigsten Reihe stand ein einzelner Mann und nicht, wie bei der Abfahrt, zwei. Kurschakow verfluchte den Moment, in dem er sich bereiterklärt hatte, diese Etappe ohne Lagerakten zu übernehmen, einfach nach der Liste, auf der sich unter Nummer 60 ein geflohener Häftling verbarg. Die Liste war verwischt; außerdem war das Papier auf keine Weise vor dem Regen zu schützen. Vor Aufregung konnte Kurschakow die Namen kaum entziffern, und tatsächlich verschwammen auch die Buchstaben. Nummer 60 war nicht da. Die Hälfte des Wegs war schon zurückgelegt. Für solche Verluste wurde streng bestraft, und Kurschakow verabschiedete sich schon von seinen Schulterstücken und der Offiziersration. Er fürchtete die Abkommandierung an die Front. Es war das zweite Kriegsjahr, und Kurschakow diente glücklich in der Begleitpostenwache. Er hatte sich als verlässlicher und pünktlicher Offizier empfohlen. Dutzende Male hatte er Etappen begleitet, große und kleine, hatte Transporte geführt, war auch im Sonderkonvoj, und niemals hatte es bei ihm eine Flucht gegeben. Man hatte ihn sogar mit der Medaille »Für Verdienste im Kampf«
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