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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Jahre. Eine Bestie, aber kampflustig …«
    Der Kommandant schrieb mit fester Hand neben den Namen Berdy: »Neigt zur Flucht, Fluchtversuch während der Untersuchung.«
    Eine Stunde später wurde Berdy aufgerufen. Erfreut sprang er auf, er glaubte, dass sich alles klären wird, gleich kommt er frei. Er lief fröhlich vor dem Begleitposten her.
    Man führte ihn ans Ende des Hofs, zu einer Baracke, die mit einer dreifachen Reihe Stacheldraht abgetrennt war, und stieß ihn in die nächste Tür, in die stinkende Dunkelheit, aus der Stimmen tönten.
    »Eine Bestie, Brüder …«
    Ich traf Berdy Ali As im Krankenhaus. Er sprach schon ein wenig Russisch und erzählte, wie vor drei Jahren auf dem Basar in Nowossibirsk ein russischer Soldat lange mit ihm zu sprechen versuchte, ein Streifenposten, wie Berdy denkt. Der Soldat brachte den Turkmenen zur Feststellung seiner Identität auf den Bahnhof. Der Soldat zerriss Berdys Papiere und stieß ihn in einen Häftlingswaggon. Berdys wirklicher Nachname ist Toschajew, er ist Bauer aus einem abgelegenen Aul bei Tschardshou. Auf der Suche nach Brot und Arbeit hatte er sich gemeinsam mit einem Landsmann, der Russisch kann, bis nach Nowossibirsk geschleppt, der Kamerad war auf dem Basar irgendwo weggegangen.
    Dass er, Toschajew, schon mehrere Eingaben gemacht habe, bisher ohne Antwort. Eine Lagerakte für ihn war nicht angekommen, er gehörte zur Gruppe der »Unregistrierten« – von Leuten, die ohne Papiere in Haft gehalten wurden. Dass er sich schon daran gewöhnt habe, auf den Nachnamen Ali As zu reagieren, dass er nach Hause wolle, dass es hier kalt sei, dass er oft krank sei, dass er in die Heimat geschrieben, aber selbst keine Briefe bekommen habe, vielleicht, weil er oft von einem Ort an den anderen verlegt worden sei.
    Berdy Ali As hatte gut Russisch gelernt, aber in drei Jahren nicht gelernt, mit dem Löffel zu essen. Er nahm die Schüssel mit beiden Händen – die Suppe war immer nur lauwarm – an der Schüssel verbrannte man sich weder Finger noch Lippen … Berdy trank die Suppe, und das, was auf dem Boden blieb, kratzte er mit den Fingern heraus … Auch die Grütze aß er mit den Fingern – den Löffel beseite gelegt. Das war ein Spaß für den ganzen Krankensaal. Er zerkaute ein Stückchen Brot zu Teig und knetete es, zusammen mit Asche, die er aus dem Ofen kratzte. Wenn der Teig fest war, rollte er daraus ein Kügelchen und lutschte es. Das war »Haschisch«, »Gras«, »Opium«. Über diesen Ersatz wurde nicht gelacht – jeder hatte schon ab und zu trockene Birkenblätter oder Johannisbeerwurzeln zerkrümeln und anstelle von Machorka rauchen müssen.
    Berdy wunderte sich, dass ich den Kern der Sache sofort begriff. Ein Fehler der Stenotypistin, die die Fortsetzung der Beinamen jenes Mannes numerierte, der unter Nummer 59 lief, die Unordnung und das Durcheinander bei der eiligen Abfahrt der Gefängnisetappen der Kriegszeit, und die blinde Angst der Kurschakows und Lasarews vor ihrer Leitung …
    Aber es gab ja den lebendigen Menschen – Nummer neunundfünfzig. Er hätte doch sagen können, dass der Beiname »Berdy« zu ihm gehört? Das hätte er, natürlich. Aber jeder amüsiert sich, wie er kann. Jeder freut sich über Aufregung und Panik in den Reihen der Leitung. Die Leitung auf den Weg der Wahrheit führen konnte nur ein
frajer
, kein Dieb. Aber Nummer neunundfünfzig war ein Dieb.
    1959

Prothesen
    Der Lagerisolator war alt, sehr alt. Es war, als müsse man die hölzerne Karzerwand nur anstoßen – und die Wand fällt um, der Isolator zerfällt, die Balken rollen davon. Aber der Isolator stürzte nicht ein, und die sieben Einzelkarzer taten treuen Dienst. Natürlich, jedes laut gesprochene Wort hätten die Nachbarn gehört. Aber die, die im Karzer saßen, fürchteten die Strafe. Der diensthabende Aufseher macht ein Kreidekreuz an die Zelle – und die Zelle bekommt kein warmes Essen. Er macht zwei Kreuze – sie bekommt auch kein Brot. Das war ein Karzer für Verbrechen im Lager; wen man gefährlicherer Dinge verdächtigte – der wurde in die Verwaltung geschafft.
    Heute hatte man unvermutet zum ersten Mal alle Chefs von Lagerdienststellen verhaftet, die selbst Häftlinge waren – alle Natschalniks. Irgendein großes Verfahren wurde fabriziert, irgendein Lagerprozess vorbereitet. Unter irgendjemandes Kommando.
    Und da standen wir alle, zu sechst, im engen Korridor des Isolators, umgeben von Begleitposten, und spürten und verstanden nur eins: dass wir

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