Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
und vier Jahren Fußketten.
In Schlüsselburg praktizierte man zu Stepanows Zeit auch eine effektive »Neuerung«– man kettete die
katorga
-Häftlinge paarweise an – die zuverlässigste Methode, sie miteinander zu verfeinden.
In einer Erzählung hat uns Henri Barbusse die Tragödie von Verliebten gezeigt – aneinander gekettet, begannen sie einander wild zu hassen …
Mit den
katorga
-Häftlingen wurde das schon lange gemacht. Die Auswahl der Partner in den Ketten – das war ein großartiger Einfall der Meister dieser Dinge; hier konnte die Gefängnisleitung nach Kräften Witze machen – einen Hoch- mit einem Kleingewachsenen aneinanderketten, einen Sektierer mit einem Atheisten, und vor allem konnte sie die politischen »Buketts« sortieren – einen Anarchisten und einen Sozialrevolutionär, einen Sozialdemokraten und einen Tschornoperedelez .
Damit sich zwei aneinander gekettete Menschen nicht entzweiten, brauchte es größte Beherrschung bei beiden oder die blinde Verehrung des Jüngeren für den Älteren oder den leidenschaftlichen Wunsch des Älteren, alles Beste, das in seiner Seele ist – an den Kameraden weiterzugeben.
Manchmal wurde der menschliche Wille angesichts dieser neuen, sehr schweren Prüfung noch stärker. Charakter und Geist wurden gefestigt.
So verging die Ketten-Haftzeit von Michail Stepanow, die Zeit, als er Hand- und Fußketten trug.
Es vergingen die gewöhnlichen
katorga
-Jahre – die Nummer, das Karo-As auf dem Kittel waren schon vertraut, wurden nicht mehr wahrgenommen.
Zu dieser Zeit begegnete Michail Stepanowitsch, ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren, in Schlüsselburg Sergo Ordshonikidse . Sergo war ein herausragender Propagandist, und er unterhielt sich im Gefängnis von Schlüsselburg viele Tage mit Stepanow. Die Begegnung und Freundschaft mit Ordschonikidse machte Michail Stepanow vom Sozialrevolutionär-Maximalisten zum Bolschewiken und Sozialdemokraten.
Er glaubte mit dem Glauben Sergos an die Zukunft Russlands, an die eigene Zukunft. Michail ist noch jung, und selbst wenn er die »Immerwährende« Tag für Tag abbüßt, wird er doch mit unter vierzig Jahren in die Freiheit kommen und dem neuen Banner noch dienen können, er wird diese zwanzig Jahre warten.
Aber er musste wesentlich weniger warten. Der Februar 1917 öffnete die Türen der zaristischen Gefängnisse, und Stepanow war sehr viel früher in Freiheit, als er erwartet und gedacht hatte. Er fand Ordschonikidse, trat in die Partei der Bolschewiki ein, beteiligte sich am Sturm auf das Winterpalais, und nach der Oktoberrevolution schloss er einen Militärlehrgang ab und ging als roter Kommandeur an die Front; von Front zu Front kletterte er auf der militärischen Rangordnung höher und höher.
An der Tambower, Antonows Front, kommandierte Brigadekommandeur Stepanow eine gemischte Abteilung von Panzerzügen, und er kommandierte nicht ohne Erfolg.
Die »Antonowschtschina« ging ihrem Ende zu. Der Roten Armee standen bei den Tambowern überaus eigenartige Truppen gegenüber. Die Bewohner der dortigen Dörfer, die sich plötzlich in ein reguläres Heer mit eigenen Kommandeuren verwandelt hatten.
Anders als bei vielen anderen Banden der Bürgerkriegszeiten, achtete Antonow auf den moralischen Zustand der Truppe und inspirierte seine Soldaten über seine politischen Kommissare, die er nach dem Vorbild der Kommissare der Roten Armee aufgestellt hatte.
Antonow selbst war längst vom Revolutionstribunal verurteilt, in Abwesenheit zum Tod verurteilt und als vogelfrei erklärt. An alle Truppenteile der Roten Armee war ein Befehl des Oberkommandos gegangen, der bei Antonows Ergreifung und Identifizierung seine sofortige Erschießung als Volksfeind forderte.
Die »Antonowschtschina« ging ihrem Ende zu. Und eines Tages wurde dem Brigadekommandeur gemeldet, dass die Operation des Regiments der Allrussischen Tscheka ein voller Erfolg war und dass Antonow, Antonow selbst, gefasst sei.
Stepanow befahl, den Gefangenen zu bringen. Antonow trat ein und blieb an der Schwelle stehen. Das Licht der an der Tür aufgehängten »Fledermaus«-Lampe fiel auf ein eckiges, hartes und inspiriertes Gesicht.
Stepanow befahl dem Begleitposten, den Raum zu verlassen und vor der Tür zu warten. Dann trat er dicht an Antonow heran – er war fast einen Kopf kleiner als Antonow – und sagte:
»Saschka, bist du es?«
Sie waren in Schlüsselburg ein ganzes Jahr mit einer gemeinsamen Kette angekettet gewesen und hatten sich nie
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