Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
ausgezeichnet – solche Medaillen verteilte man auch tief im Hinterland.
    Kurschakow saß im Güterwaggon, wo die Wache untergebracht war, und blätterte mit zitternden, regennassen Fingern im Inhalt seines unglückseligen Päckchens – dem Verpflegungsschein, dem Brief aus dem Gefängnis an die Lager, in die er die Etappe begleitete, und der Liste, der Liste, der Liste. Und in allen Papieren, in allen Zeilen sah er nur die Ziffer 192. Und 191 Häftlinge waren in den fest versperrten Waggons eingeschlossen. Die durchnässten Leute fluchten, zogen Jacken und Mäntel aus und versuchten, die Kleidungsstücke im Wind an der Türritze des Waggons zu trocknen.
    Kurschakow war konfus und bedrückt durch die Flucht. Die Begleitposten, die keine Arbeit hatten, hielten sich furchtsam in der Ecke des Waggons und schwiegen, und auf dem Gesicht von Kurschakows Gehilfen, dem Hauptwachtmeister Lasarew, spiegelte sich abwechselnd dasselbe, wie auf dem Gesicht seines Chefs – Hilflosigkeit, Angst …
    »Was tun?«, sagte Kurschakow. »Was tun?«
    »Gib mal die Liste …«
    Kurschakow streckte Lasarew einige zerknitterte, mit einer Stecknadel zusammengeklammerte Blätter hin.
    »Nummer sechzig«, las Lasarew. »Ali As Berdy, Artikel hundertzweiundsechzig, Haftzeit zehn Jahre.«
    »Ein Dieb«, sagte Lasarew seufzend. »Ein Dieb. Irgendeine Bestie.«
    Der häufige Umgang mit der Welt der Diebe hatte die Begleitposten daran gewöhnt, die »Gaunersprache«, den Diebeswortschatz zu benutzen, der mit Bestien die Bewohner Mittelasiens, des Kaukasus und Transkaukasiens bezeichnet.
    »Eine Bestie«, bekräftigte Kurschakow. »Und kann wahrscheinlich nicht mal Russisch. Hat wahrscheinlich geblökt bei den Appellen. Und uns, Bruder, wird man das Fell abziehen für diesen …« und Kurschakow nahm das Blatt näher an die Augen und las voller Hass: »Berdy …«
    »Vielleicht auch nicht«, sagte plötzlich Lasarew mit kräftigerer Stimme. Er hob die funkelnden unsteten Augen. »Ich habe da eine Idee.« Er flüsterte Kurschakow schnell etwas ins Ohr.
    Der Leutnant schüttelte misstrauisch den Kopf.
    »Es kommt ja nichts dabei heraus …«
    »Versuchen können wir es«, sagte Lasarew. »Die Front, nicht wahr … Der Krieg, nicht wahr?«
    »Geh los«, sagte Kurschakow. »Hier werden wir noch zwei Tage stehen – ich habe mich auf dem Bahnhof erkundigt.«
    »Gib mir Geld«, sagte Lasarew.
    Gegen Abend kam er zurück.
    »Ein Turkmene«, sagte er Kurschakow.
    Kurschakow ging zu den Waggons, öffnete die Tür des ersten Wagens und fragte die Häftlinge, ob jemand unter ihnen wenigstens ein paar Worte Turkmenisch könne. Aus dem Waggon kam die Antwort Nein, und Kurschakow ging nicht mehr weiter. Er verlegte einen der Häftlinge mit Sachen in jenen Waggon, aus dem der Verlorene geflohen war, und in den ersten Waggon stießen die Begleitposten einen abgerissenen Menschen, der heiser etwas Wichtiges, Schreckliches in einer unverständlichen Sprache schrie.
    »Sie haben ihn, die Verdammten«, sagte ein hochgewachsener Häftling, der dem Flüchtigen Platz machte. Der umschlang die Beine des Langen und brach in Tränen aus.
    »Lass das, hörst du, lass das«, krächzte der Lange.
    Der Flüchtige sagte etwas sehr schnell.
    »Ich verstehe nicht, Bruder«, sagte der Lange. »Iss die Suppe hier, den Rest in meinem Kochgeschirr.«
    Der Flüchtige schlürfte die Suppe und schlief ein. Am Morgen schrie und weinte er wieder, sprang aus dem Waggon und warf sich Kurschakow zu Füßen. Die Begleitposten stießen ihn zurück in den Waggon, und bis ans Ende der Reise lag der Flüchtige unter der Pritsche und kam nur hervor, wenn Essen verteilt wurde. Er schwieg und weinte.
    Die Übergabe der Etappe verlief durchaus glatt für Kurschakow. Nach ein paar Flüchen an die Adresse des Gefängnisses, das eine Etappe ohne Lagerakten schickte, trat der diensthabende Kommandant heraus und begann den Appell nach der Liste. Neunundfünfzig Mann traten beiseite, und der sechzigste trat nicht vor.
    »Das ist ein Geflüchteter«, sagte Kurschakow. »Er ist mir in Nowosibirsk entschlüpft, aber wir haben ihn gefunden. Auf dem Basar. Er hat uns ganz schön zu schaffen gemacht. Ich zeige ihn Ihnen. Eine Bestie – kein Wort Russisch.«
    Kurschakow zog Berdy an der Schulter herbei. Die Gewehrverschlüsse schnappten, und Berdy betrat das Lager.
    »Und wie heißt er?«
    »Hier«, Kurschakow deutete hin.
    »Ali As Berdy«, las der Kommandant. »Artikel hundertzweiundsechzig, Haftzeit zehn

Weitere Kostenlose Bücher