Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
wieder in die Zähne derselben Maschinerie geraten waren, wie schon vor Jahren, und dass wir den Grund erst morgen erfahren würden, frühestens morgen …
Alle wurden bis auf die Wäsche ausgezogen und jeder in einen getrennten Karzer geführt. Der Lagerverwalter schrieb die in Verwahrung genommenen Sachen auf, stopfte sie in Säcke, band Holztäfelchen daran, beschriftete sie. Der Untersuchungsführer, ich kannte seinen Namen – Pesnjakewitsch –, leitete die »Operation«.
Der erste ging an Krücken. Er setzte sich auf die Bank an der Laterne, legte die Krücken auf den Boden und fing an, sich auszuziehen. Ein Stahlkorsett kam zum Vorschein.
»Ausziehen?«
»Natürlich.«
Der Mann löste die Schnüre des Korsetts, und Untersuchungsführer Pesnjakewitsch beugte sich zum Helfen hinunter.
»Du hast mich geschnappt, alter Freund?«, sagte auf Ganovenart der Mann und legt in das Wort »schnappen« den Ganoven-, einen nichtverletzenden Sinn.
»Ich habe dich erkannt, Plehwe.«
Der Mann im Korsett war Plehwe, der Leiter der Lager-Schneiderwerkstatt. Das war ein wichtiger Platz mit zwanzig Meistern, die mit Erlaubnis der Leitung auf Auftrag und auf freien Auftrag arbeiteten.
Der nackte Mann drehte sich auf der Bank. Das Stahlkorsett lag am Boden, die abgenommenen Sachen wurden im Protokoll verzeichnet.
»Wie soll ich dieses Ding verzeichnen?«, fragte der Lagerverwalter des Isolators Plehwe und berührte das Korsett mit der Stiefelspitze.
»Stahlprothese, Korsett«, antwortete der nackte Mann.
Der Untersuchungsführer Pesnjakewitsch hatte sich irgendwohin entfernt, und ich fragte Plehwe:
»Kennst du diesen Bullen wirklich aus der Freiheit?«
»Ja klar!«, sagte Plehwe hart. »Seine Mutter hatte in Minsk ein Bordell, ich war manchmal dort. Noch unter Nikolaj dem Blutigen .«
Aus den Tiefen des Korridors kamen Pesnjakewitsch und vier Begleitposten. Die Begleitposten packten Plehwe an den Beinen und unter den Armen und trugen ihn in den Karzer. Das Schloss schnappte.
Der nächste war der Leiter des Pferdestützpunkts Karawajew. Ein ehemaliger Budjonnyj -Mann, er hatte im Bürgerkrieg einen Arm verloren. Karawajew schlug mit dem Eisen der Prothese auf den Tisch des Wachhabenden:
»Ihr Kanaillen.«
»Nimm dein Eisen ab. Gib die Hand ab.«
Karawajew holte mit der abgeschnallten Prothese aus, aber die Begleitposten stürzten sich auf den Reiterarmisten und stießen ihn in den Karzer. Unflätige Tiraden klangen zu uns herüber.
»Hör zu, Rutschkin «, sagte der Leiter des Isolators, »für Krach – gibt es kein warmes Essen.«
»Zieh ab mit deinem warmen Essen.«
Der Leiter des Isolators zog ein Stück Kreide aus der Tasche und machte ein Kreuz an Karawajews Karzer.
»Na, und wer unterschreibt, dass er die Hand abgegeben hat?«
»Niemand unterschreibt. Setz ein Häkchen hin«, kommandierte Pesnjakewitsch.
Der Arzt war an der Reihe, unser Doktor Shitkow. Der taube Greis gab sein Hörrohr ab. Der nächste war Oberst Panin, der Leiter der Tischlerwerkstatt. Dem Oberst hatte irgendwo in Ostpreußen an der deutschen Front eine Granate ein Bein abgerissen. Er war ein hervorragender Tischler und erzählte mir, dass der Adel seine Kinder immer etwas Praktisches, ein Handwerk lernen ließ. Der alte Panin schnallte die Prothese ab und hüpfte auf einem Bein in seinen Karzer.
Wir waren noch zwei – Schor, Grischa Schor, der Chefbrigadier, und ich.
»Schau, wie geschickt er läuft«, sagte Grischa, von der nervösen Fröhlichkeit des Arrests erfasst, »der eine ein Bein, der andere einen Arm. Und ich – gebe ein Auge ab.« Und Grischa nahm geschickt sein rechtes, ein Porzellanauge, heraus und zeigte es mir auf der Hand.
»Hast du etwa ein künstliches Auge?«, sagte ich verwundert. »Das habe ich nie bemerkt.«
»Du bemerkst auch wenig. Und das Auge ist auch passend, gut gewählt.«
Während sie Grischas Auge aufschrieben, kam der Leiter des Isolators in Stimmung und kicherte haltlos.
»Also der – einen Arm, der – ein Bein, der – ein Ohr, der – den Rücken, und dieser – ein Auge. Bald haben wir alle Körperteile zusammen.« Er sah mich Nackten aufmerksam an. »Was gibst du ab? Die Seele?«
»Nein«, sagte ich. »Die Seele gebe ich nicht ab.«
1965
Die Jagd nach dem Rauch der Lokomotive
Ja, das war mein Traum: den Pfiff einer Lokomotive zu hören, den weißen Rauch einer Lokomotive zu sehen, der sich über die Böschung des Bahndamms ausbreitet.
Ich wartete auf den weißen Rauch, wartete auf
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