Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Stepanowitsch Stepanow. So hieß der neue Erste Sachbearbeiter, ohne jedes hier so verbreitete »Alias«.
Übrigens hatte ich einen Tag zuvor sein Paket gesehen, das der Sonderkonvoj mitbrachte, seine Lagerakte. Das war eine sehr dünne Akte im grünen Umschlag, die mit dem üblichen Fragebogen begann, mit zwei nummerierten Photographien, en face und im Profil, und dem kleinen Quadrat des Fingerabdrucks, das dem Querschnitt durch ein Miniaturbäumchen glich.
In dem Fragebogen war sein Geburtsjahr angegeben – 1888 – ich erinnerte mich gut an die drei Achten, der Ort seiner letzten Arbeitsstelle – Moskau, NK RKI … Er war Mitglied der Allsowjetischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki) seit 1917.
Auf eine der letzten Fragen wurde geantwortet: ja, verurteilt, Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre seit 1905 … Die offizielle Eintragung war, wie gewöhnlich, lapidar.
Die Haftzeit – zehn Jahre, genauer gesagt, die Höchststrafe, umgewandelt in zehn Jahre.
Arbeit im Lager – war auf den Solowezker-Inseln mehr als ein halbes Jahr Erster Sachbearbeiter.
Nicht sehr interessant war der Fragebogen unseres Michail Stepanowitsch. Im Lager gab es viele Koltschak- und Annenkow-Kommandeure , es gab den Kommandeur der berüchtigten Wilden Division , es gab eine Abenteurerin, die sich für die Tochter Nikolaj Romanows ausgab, es gab den berühmten Taschendieb Karlow, Beiname Unternehmer, und tatsächlich einem Unternehmer ähnlich, glatzköpfig, mit riesigem Bauch und geschwollenen Fingern – einer der geschicktesten Taschendiebe, ein Artist, den man immer der Leitung vorführte.
Es gab Majerowskij, einen Einbrecher und Künstler, der ununterbrochen zeichnete – auf einem Brett, einem Blättchen Papier – ein und dasselbe – nackte Frauen und Männer, ineinander verwickelt in allen möglichen widernatürlichen Arten der Kommunikation. Nichts anderes konnte Majerowskij zeichnen. Er war der verstoßene Sohn von überaus wohlhabenden Eltern aus dem Wissenschaftsmilieu. Für die Ganoven war er ein Fremder.
Es gab einige Grafen, einige georgische Fürsten aus dem Gefolge Nikolajs II.
Stepanows Lagerakte steckte in einem neuen Lagerumschlag und stand im Regal beim Buchstaben »S«.
Und ich hätte diese erstaunliche Geschichte nicht erfahren ohne ein zufälliges Sonntagsgespräch im Dienstkabinett.
Zum ersten Mal sah ich Stepanow ohne Krücken. Ein bequemer Stock, den er offensichtlich längst in der Lagertischlerei bestellt hatte, war in seiner Hand. Der Stockgriff war wie im Krankenhaus – er war eingebogen und nicht vorgewölbt wie der Griff an einem gewöhnlichen Spazierstock.
Ich sagte »oho« und begrüßte ihn.
»Ich bin auf dem Weg der Besserung«, sagte Stepanow. »An mir ist ja alles heil. Das ist Skorbut.«
Er zog das Hosenbein hoch, und ich sah einen aufwärts ziehenden lila-schwarzen Streifen auf der Haut. Wir schwiegen.
»Michail Stepanowitsch, und wofür sitzt du?«
»Ja wie denn?«, und er lächelte. »Ich habe doch Antonow ziehenlassen …«
Der siebzehnjährige Petersburger Gymnasiast Mischa Stepanow, Sohn eines Gymnasiallehrers, war vor 1905 in die Partei eingetreten, wie das gottgewollt war nach der Mode unter jungen russischen Intellektuellen. Erleuchtet vom legendären Licht des »Volkswillens« , zerfiel die eben gegründete Partei der Sozialrevolutionäre in zahlreiche Strömungen und Unterströmungen. Unter diesen Strömungen nahmen einen prominenten Platz die Sozialrevolutionäre-Maximalisten ein – die Gruppe des bekannten Terroristen Michail Sokolow. Verwandtschaftliche Bande führten Mischa Stepanow in diese Gruppe, und bald lebte er enthusiastisch das Leben des russischen Untergrunds: geheime Treffen, konspirative Wohnungen, Schießausbildung, Dynamit …
In den Labors stand üblicherweise eine Flasche Nitroglyzerin – für den Fall der Verhaftung, der Durchsuchung.
In einer konspirativen Wohnung wurden sieben Kämpfer von der Polizei eingekreist. Die Sozialrevolutionäre schossen, solange sie Patronen hatten. Auch Mischa Stepanow schoss. Sie wurden verhaftet, vor Gericht gestellt und alle aufgehängt bis auf den minderjährigen Mischa. Und Michail erhielt statt des Stricks die immerwährende
katorga
und kam in die Nähe seines heimischen Petersburg – nach Schlüsselburg.
Das Regime der
katorga
ändert sich je nach den Umständen und nach dem Charakter des Autokraten. »Immerwährende«
katorga
, das hieß in der Zarenzeit zwanzig Jahre
katorga
mit zwei Jahren Hand-
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