Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
gestritten.
Stepanow umarmte den gefesselten Gefangenen, und sie küssten sich.
Stepanow dachte lange nach, ging lange schweigend durch den Waggon, und Antonow lächelte traurig und schaute den alten Kameraden an. Stepanow erzählte Antonow von dem Befehl – übrigens war das für den Gefangenen keine Neuigkeit.
»Ich kann dich nicht erschießen und werde dich nicht erschießen«, sagte Stepanow, als die Lösung offenbar gefunden war. »Ich werde einen Weg finden, dir die Freiheit zu geben. Aber gib du mir deinerseits dein Wort, zu verschwinden, den Kampf gegen die Sowjetmacht einzustellen – diese Bewegung ist sowieso zum Untergang verurteilt. Gib mir dein Wort, dein Ehrenwort.«
Und Antonow, der es leichter hatte – die moralischen Qualen seines
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-Kameraden verstand er gut –, gab dieses Ehrenwort. Und Antonow wurde abgeführt.
Das Tribunal war für den nächstenTag angesetzt, und in der Nacht floh Antonow. Das Tribunal, das Antonow ein weiteres Mal richten sollte, richtete an seiner Stelle den Chef der Wache, die die Posten schlecht aufgestellt und dem so wichtigen Verbrecher damit die Flucht ermöglicht hatte. Mitglieder des Tribunals waren sowohl Stepanow als auch sein Bruder. Der Chef der Wache wurde angeklagt und zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt – für die falsche Aufstellung der Posten.
Wie kam es, dass Stepanow nicht wusste, dass Antonow ehemaliger politischer
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-Häftling war? In der kurzen Zeit, die Michail Stepanow an der Tambower Front verbrachte, war er nicht dazu gekommen, sich mit einer, der wichtigsten Flugschrift Antonows bekannt zu machen. In dieser Flugschrift hatte Antonow geschrieben: »Ich bin ein Veteran des Volkswillens und war viele Jahre in der zaristischen
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. Eure Führer Lenin und Trotzkij, die außer der Verbannung nichts gesehen haben, können sich mit mir nicht messen. Ich war in Fesseln geschlagen …« – und so weiter. Diese Flugschrift Antonows lernte Stepanow erst viel später kennen.
Und damals glaubte er, dass alles vorbei und sein Gewissen rein sei – sowohl vor Antonow, dessen Leben Stepanow gerettet hat, als auch vor der Sowjetmacht, denn Antonow wird verschwinden, und die »Antonowschtschina« ist zu Ende.
Doch es kam anders. Antonow dachte gar nicht daran, sein Wort zu halten. Er zeigte sich und inspirierte seine »grünen« Truppen, und die Kämpfe flammten mit neuer Kraft auf.
»Und damals bin ich auch ergraut«, sagt Stepanow. »Eben damals.«
Bald übernahm Tuchatschewskij das Oberkommando, seine energischen Schritte zur Liquidierung der »Antonowschtschina« waren von vollem Erfolg gekrönt – mit Geschützfeuer wurden die gehässigsten Siedlungen weggefegt. Die »Antonowschtschina« ging zu Ende. Antonow selbst lag mit Flecktyphus im Lazarett, und als das Lazarett von der Roten Reiterarmee umzingelt war, erschoss der Bruder Antonows erst ihn im Krankenbett und dann sich selbst. So starb Aleksandr Antonow.
Der Bürgerkrieg war zu Ende, Stepanow wurde demobilisiert und diente unter Ordshonikidse, der damals Volkskommissar der Arbeiter-Bauern-Inspektion war. Als Parteimitglied seit 1917 trat Stepanow als Geschäftsführer dort ein.
Das war 1924. So diente er dort ein Jahr, zwei, drei Jahre, und am Ende des dritten Jahres bemerkte er, dass man ihn beschattete – jemand sah seine Papiere, seine Korrespondenz durch.
Viele Nächte verbrachte Stepanow schlaflos. Er dachte an jeden Schritt seines Lebens, jeden Tag seines Lebens zurück, alles war daran klarer als klar – außer jener, der Antonow-Geschichte. Aber Antonow war ja tot. Den eigenen Bruder hatte Stepanow niemals in irgendetwas eingeweiht.
Bald wurde er in die Lubjanka vorgeladen, und der Untersuchungsführer, ein hoher Tscheka-Rang, fragte ruhig: gab es nicht eine Gelegenheit, bei der Stepanow als Kommandierender der Roten Armee, unter Kriegsbedingungen den gefangengenommenen Aleksandr Antonow freigelassen habe?
Und Stepanow berichtete die Wahrheit. Dann klärten sich alle Geheimnisse auf.
Wie sich zeigte, war in jener Tambower Sommernacht Antonow nicht allein geflohen. Man hatte ihn auch gemeinsam mit einem seiner Offiziere gefangengenommen. Dieser war nach Antonows Tod in den Fernen Osten geflohen, hatte die Grenze zu Ataman Semjonow überschritten und kam mehrmals von dort als Diversant, er wurde gefangengenommen und saß in der Lubjanka und »besann sich«. Und als er in der Einzelzelle sein ausführliches Bekenntnis niederschrieb, erwähnte er,
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