Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
eine lebendige Lokomotive.
Wir waren am Ende unserer Kräfte, wir krochen und konnten uns nicht entschließen, die Steppjacken und Halbpelze zurückzulassen, nur fünfzehn Kilometer blieben uns bis nach Hause, bis zu den Baracken. Aber wir hatten Angst, die Steppjacken und Halbpelze direkt auf der Straße zurückzulassen, im Straßengraben zurückzulassen und zu laufen, zu gehen, zu kriechen, die schreckliche Last der Kleidung loszuwerden. Wir hatten Angst, die Steppjacken zurückzulassen – in der Winternacht verwandelt sich die Kleidung in ein paar Minuten in einen gefrorenen Krummholzbusch, in einen eisbedeckten Stein. Nachts werden wir die Kleidung niemals finden, sie wird sich in der winterlichen Tajga verlieren, wie sich im Sommer die Weste zwischen den Krummholzbüschen verlor, wenn man sie nicht oben an den Gipfel des Krummholzes band, als Wegzeichen, Wegzeichen des Lebens. Wir wussten, dass wir ohne Steppjacken und Halbpelze nicht durchkommen werden. Und wir krochen, wurden immer schwächer, wärmten uns im Schweiß und – kaum stellten wir die Bewegung ein – spürten, wie vernichtende Kälte über den kraftlosen Körper kriecht, der seine wichtigste Fähigkeit verloren hat – Quelle der Wärme, der einfachen Wärme zu sein, die, wenn nicht Hoffnung, so Erbitterung erzeugt.
Wir krochen alle gemeinsam, Freie und Häftlinge. Der Fahrer, dem das Benzin ausgegangen war, blieb und wartete auf die Hilfe, die wir holen werden. Er blieb und machte ein Feuer aus dem einzigen trockenen Holz, das bei der Hand war – den Straßenpfählen. Die Rettung des Fahrers bedrohte vielleicht andere Fahrzeuge mit dem Tod – denn alle Straßenpfähle wurden eingesammelt, zerhackt und für das Feuer aufgeschichtet, das mit kleiner, aber rettender Flamme brannte, und der Fahrer beugte sich über das Feuer, über die Flamme, und legte von Zeit zu Zeit das nächste Stöckchen, Spänchen nach – der Fahrer dachte nicht einmal daran, sich zu wärmen, sich aufzuwärmen. Er bewahrte nur sein Leben … Wenn der Fahrer das Fahrzeug aufgegeben hätte, gemeinsam mit uns über die kalten spitzen Steine der Bergchaussee gekrochen wäre, die Ladung aufgegeben hätte – hätte er eine Haftstrafe bekommen. Der Fahrer wartete, und wir krochen – Hilfe holen.
Ich kroch und versuchte, keinen einzigen überflüssigen Gedanken zu denken – Gedanken waren wie Bewegungen, die Energie sollte für nichts anderes ausgegeben werden als nur für das Festkrallen, das Vorwärtsschieben, das Vorwärtsschleppen des eigenen Körpers über die nächtliche Winterstraße.
Und doch erinnerte unser eigener Atem bei fünfzig Grad Frost an Lokomotivrauch. Die silbernen Lärchen in der Tajga erinnerten an eine Explosion von Lokomotivrauch. Der weiße Nebel, der den Himmel verdeckte und unsere Nacht erfüllte, war ebenfalls Lokomotivrauch, der Rauch meines langjährigen Traums. In diesem weißen Schweigen hörte ich nicht das Brausen des Windes, ich hörte eine musikalische Phrase vom Himmel und eine klare, melodische, klingende menschliche Stimme, die direkt in der Frostluft über uns tönte. Die musikalische Phrase war eine Halluzination, ein Klangtrugbild, darin war etwas von dem Lokomotivrauch, der meine Bergschlucht füllte. Die menschliche Stimme war nur die Fortsetzung, die logische Fortsetzung dieses winterlichen musikalischen Trugbilds.
Aber ich sah, dass ich diese Stimme nicht allein hörte. Alle, die hier krochen, hörten diese Stimme. Vor Kälte erstarrend, aber außerstande uns zu bewegen. In der Stimme vom Himmel war etwas Größeres als Hoffnung, Größeres als unsere Schildkrötenbewegungen hin zum Leben. Die Stimme vom Himmel wiederholte: ich verlese eine Meldung der TASS: Die fünfzehn Ärzte … Sie wurden ungesetzlich beschuldigt, sie tragen keinerlei Schuld, ihre Geständnisse wurden durch den Einsatz unzulässiger und von den sowjetischen Gesetzen strengstens verbotener Untersuchungsmethoden gewonnen.
Die Ärzte waren freigelassen. Das ist ja eine Nummer! Und was ist mit der Post von Lidija Timaschuk und dem Orden? Was ist mit der Journalistin Jelena Kononenko, die die Wachsamkeit und die Heldin eben dieser Wachsamkeit rühmte, die verkörperte Wachsamkeit, die personifizierte Wachsamkeit, die Wachsamkeit, die vor der ganzen Welt zur Schau gestellt wurde?
Denn der Tod Stalins machte auf uns, die vielerfahrenen, keinen großen Eindruck.
Schon lange spielte eine himmlische Musik, während wir vorwärts krochen. Niemand sagte ein Wort
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