Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
meine Familie sehen« – das waren die letzen Worte, die ich von diesem Ganoven hörte.
Das alles: das grelle Licht der Lampe auf dem Bahnhof in Irkutsk, und der Spekulant, der zur Tarnung fremde Photographien herumfuhr, und das Erbrochene, das sich aus dem Rachen des jungen Leutnants auf meine Koje ergoss, und die traurige Prostituierte in der dritten Koje im Schaffnerabteil, und das zweijährige schmutzige Kind, das glücklich »Papa! Papa!« rief – das alles prägte sich mir ein als das erste Glück, das beständige Glück der Freiheit.
Der Jaroslawer Bahnhof. Der Lärm, die städtische Brandung Moskaus – der Stadt, die mir lieber war als alle Städte der Welt. Der stehende Waggon. Das liebe Gesicht meiner Frau, die mich abholte – genauso wie früher, wenn ich von meinen zahlreichen Reisen zurückkam. Dieses Mal war die Dienstreise lang gewesen, fast siebzehn Jahre. Und vor allem – ich kehrte nicht von einer Dienstreise zurück. Ich kehrte zurück aus der Hölle.
1964
Skizzen der Verbrecherwelt
Gaunerblut
Wie hört der Mensch auf, ein Mensch zu sein?
Wie wird man zum Ganoven?
Manche treten in die Verbrecherwelt auch als Unbeteiligte ein: der Kolchosarbeiter, der für einen kleinen Diebstahl seine Strafe im Gefängnis abgebüßt hat und von jetzt an sein Schicksal mit den Kriminellen teilt; ehemalige Halbstarke, deren kriminelle Handlungen sie dem angenähert haben, was sie nur vom Hörensagen kannten; der Fabrikschlosser, dem das Geld fehlt zur großen Feierei mit den Kameraden; Menschen, die keinen Beruf haben, sondern ihrem Vergnügen leben wollen, und auch Menschen, die sich schämen, um Arbeit oder einen Almosen zu bitten – auf der Straße oder in einer staatlichen Institution, ganz gleich –, und lieber stehlen als zu bitten. Das ist eine Sache des Charakters und zum Teil des Vorbilds. Um Arbeit zu bitten ist auch sehr quälend für die kranke, verletzte Eigenliebe eines gestrauchelten Menschen. Besonders eines Halbwüchsigen. Um Arbeit zu bitten ist keine geringere Erniedrigung als um einen Almosen zu bitten. Sollte man nicht lieber …
Der scheue, schüchterne Charakter eines Menschen bringt ihn zu einer Entscheidung, deren ganzen Ernst und Gefährlichkeit einzuschätzen ein Halbwüchsiger einfach noch nicht fähig, noch nicht in der Lage ist. Jeder Mensch muss zu unterschiedlichen Zeiten im Leben etwas Wichtiges entscheiden, seinem Schicksal »eine Richtung geben«, und die meisten müssen dieses Wichtige in jungen Jahren tun, wenn die Erfahrung gering und die Wahrscheinlichkeit von Fehlern groß ist. Doch in dieser Zeit ist auch die Routine des Handelns gering und die Kühnheit, die Entschlossenheit groß.
Vor eine schwere Wahl gestellt, tut der Halbwüchsige, betrogen von der schönen Literatur und tausend gängigen Legenden über die geheimnisvolle Verbrecherwelt, einen schrecklichen Schritt, von dem es oft kein Zurück mehr gibt.
Dann gewöhnt er sich ein, erbittert sich endgültig selbst und fängt selbst an, junge Leute für diesen verfluchten Orden zu werben.
In der Praxis dieses Ordens gibt es eine wichtige Feinheit, die selbst die Fachliteratur nicht erwähnt:
Es ist so, dass diese Unterwelt von angestammten Dieben regiert wird, denen, deren ältere Angehörige – Väter, Großväter oder wenigstens Onkel und ältere Brüder –
urki
waren; denen, die seit früher Kindheit in den Traditionen der Ganoven, in der Härte aufgewachsen sind, die die Ganoven gegenüber der ganzen Welt an den Tag legen; denen, die ihre Situation aus verständlichen Gründen nicht gegen eine andere eintauschen können; denen, deren »Gaunerblut« keinen Zweifel an seiner Reinheit lässt.
Angestammte Diebe bilden auch den Führungskern der kriminellen Welt, eben sie haben die entscheidende Stimme in allen Beratungen der »
prawilki
«, dieser »Ehrengerichte« der Ganoven, die die notwendige und extrem wichtige Voraussetzung des Lebens in dieser Unterwelt sind.
Während der sogenannten Entkulakisierung bekam die Welt der Ganoven enormen Zulauf. Ihre Reihen füllten sich – mit den Söhnen jener Leute, die man zu »Kulaken« erklärt hatte. Die Abrechnung mit den »Entkulakisierten« füllte die Reihen der Ganovenwelt. Allerdings spielte keiner der zuvor »Entkulakisierten« in der Welt der Verbrecher irgendwann und irgendwo eine bedeutende Rolle.
Sie raubten besser als alle anderen, waren auf Gelagen und Orgien lauter als alle anderen, sangen die Ganovenlieder schriller als alle anderen,
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