Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
einer Hätschelmethode ausgebildet werden. Keinesfalls. Niemand schützt sie vor Gefahren. Auf ihrem Weg zu den Gipfeln oder eher den tiefsten Abgründen der Halbwelt stehen einfach weniger Hindernisse. Ihr Weg ist einfacher, schneller, umstandsloser. Ihnen vertraut man schneller, lässt sie schneller Aufträge erfüllen.
Viele Jahre aber drückt sich der junge Ganove, auch wenn seine Vorfahren die einflussreichsten Größen im Diebesmilieu sind, um die erwachsenen Banditen herum, die er vergöttert, läuft für sie Papirossy holen, gibt ihnen »Feuer«, überbringt die »Kassiber«, ihre Botschaften, und bedient sie auf jede Weise. Viele Jahre vergehen, bevor man ihn zum Diebstahl mitnimmt.
–
Der Dieb – stiehlt, trinkt, feiert, führt ein ausschweifendes Leben, spielt Karten, betrügt die
frajer
, geht weder in Freiheit noch in Haft zur Arbeit, betreibt die blutige Abrechnung mit den Renegaten und beteiligt sich an den »
prawilki
«, die die wichtigen Fragen des Lebens der Unterwelt regeln.
Er hütet die Ganovengeheimnisse (die zahlreich sind), hilft seinen Ordenskameraden, zieht junge Leute heran und bildet sie aus und sorgt dafür, dass das Gesetz der Diebe in seiner strengen Reinheit erhalten bleibt.
Der Kodex ist einfach. Aber über die Jahrhunderte ist er mit Tausenden Traditionen und geheiligten Bräuchen bewachsen, über deren penible Einhaltung die Hüter der Diebesgebote sorgfältig wachen. Die Ganoven sind große Talmudisten. Um die bestmögliche Einhaltung der Diebesgesetze zu sichern, veranstalten sie von Zeit zu Zeit große allgemeine Unterwelt-Versammlungen, auf denen auch die Beschlüsse gefasst werden, die Verhaltensregeln unter neuen Lebensbedingungen diktieren und auf denen Wortersetzungen im sich ewig wandelnden Lexikon der Diebe, der »Gaunersprache« vorgenommen (vielmehr abgesegnet) werden.
Alle Menschen auf der Welt teilen sich, nach der Philosophie der Ganoven, in zwei Gruppen. Die eine Gruppe sind die »Menschen«, die »Gauner«, die »Verbrecherwelt«, die »
urki
«, »
urkagany
«, die »Ganoven«, »schweren Jungs« etc.
Die anderen sind die
frajer
, das heißt »Freie«. Das alte Wort
frajer
kommt aus Odessa. In der Ganoven»musik« des vorigen Jahrhunderts gibt es viele jiddische Jargon-Wörter.
Andere Bezeichnungen für die
frajer
sind »
schtymp
«, »Bauer«, »Gimpel«, »Aschmodai«, »Teufel«. Es gibt »verdorbene
schtympy
«, die den Ganoven nahestehen, und »beschlagene
frajer
«, die sich in den Angelegenheiten der Ganovenwelt auskennen, zumindest teilweise, die Erfahrung haben; ein »beschlagener
frajer
« bedeutet einer mit Erfahrung, es wird mit Achtung ausgesprochen. Das sind unterschiedliche Welten, und nicht nur das Gefängnisgitter trennt sie.
»Man sagt mir, ich bin ein Schurke. Gut, ich bin ein Schurke. Ich bin ein Schurke und ein Schuft und ein Mörder. Aber was weiter? Ich lebe nicht euer Leben, ich habe mein eigenes Leben, es hat andere Gesetze, andere Interessen, eine andere Redlichkeit!« – so reden die Ganoven.
Lüge, Betrug, die Provokation des
frajers
, sogar eines Menschen, der dem Ganoven das Leben gerettet hat – all das ist nicht nur in Ordnung, sondern auch ein besonderes Ruhmesblatt der Ganovenwelt, ihr Gesetz.
Mehr als naiv sind die Aufrufe Schejnins zum »Vertrauen« in die Ganovenwelt, ein Vertrauen, für das schon zu viel Blut gezahlt wurde.
Die Verlogenheit der Ganoven kennt keine Grenzen, denn gegenüber den
frajern
(und
frajer
sind die ganze Welt außer den Ganoven) existiert kein anderes Gesetz als das Gesetz des Betrugs, mit allen Mitteln: Schmeichelei, Verleumdung, Versprechungen …
Der
frajer
ist nur dazu geschaffen, dass man ihn betrügt; jene, die auf der Hut sind, die schon die traurige Erfahrung des Umgangs mit den Ganoven haben, heißen »beschlagene
frajer
«, das ist die besondere Gruppe der »Teufel«.
Diese Schwüre und Versprechungen kennen kein Maß, keine Grenze. Eine märchenhafte Zahl von Chefs aller Art, von angestellten und nichtangestellten Erziehern, von Milizionären und Untersuchungsführern sind dem schlichten »Ehrenwort eines Diebes« auf den Leim gegangen. Wahrscheinlich ist jeder, zu dessen Arbeits-Verpflichtungen der tägliche Umgang mit den Gaunern gehört, immer wieder auf diesen Köder hereingefallen. Ist zweimal und dreimal hereingefallen, weil er einfach nicht verstehen konnte, dass die Moral der Ganovenwelt eine andere Moral ist, dass die sogenannte Hottentottenmoral mit ihrem Kriterium
Weitere Kostenlose Bücher