Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Gefälscht waren ihre medizinischen Papiere – die Kopie der Krankengeschichte, das Endurteil, die Laboranalysen. Gefälscht von Leuten, die eine vollkommen offizielle Position innehatten und über Stempel und Siegel und ihren guten oder schlechten – ganz gleichgültig – Namen verfügten. Viele Stunden hatte es den Chef der Sanitätsstelle des Bergwerks gekostet, eine falsche Krankengeschichte zusammenzukleben, das fingierte medizinische Dokument mit echter artistischer Inspiration zu erstellen.
Die Diagnose Lungentuberkulose war gewissermaßen die logische Folge der fein erdachten täglichen Aufzeichnungen. Ein dickes Päckchen Fieberblätter mit Diagrammen der typischen Tuberkulosekurven, die ausgefüllten Formulare zu allen möglichen Laboranalysen mit bedrohlichen Werten. Eine solche Arbeit ist für den Arzt wie ein schriftliches Examen, bei dem der Prüfungszettel verlangt, einen Tuberkuloseprozess zu beschreiben, der sich im Organismus entwickelt – bis zu dem Grad, dass die umgehende Hospitalisierung des Kranken der einzige Ausweg ist.
Eine solche Arbeit kann man auch aus Sportsgeist machen – um dem zentralen Krankenhaus zu zeigen, dass man auch im Bergwerk nicht von gestern ist. Es macht einfach Freude, sich eins nach dem anderen an alles zu erinnern, was man einmal im Institut gelernt hat. Natürlich hätte man niemals gedacht, dass man seine Kenntnisse auf so ungewöhnliche, »künstlerische« Weise anwenden muss.
Die Hauptsache – Demidowa musste um jeden Preis ins Krankenhaus gelegt werden. Und das Krankenhaus darf, es kann die Aufnahme einer solchen Kranken nicht verweigern, auch wenn die Ärzte Tausende Zweifel haben.
Zweifel regten sich sofort, und während die Frage der Aufnahme Demidowas vor Ort in den »höchsten Sphären« entschieden wurde, saß sie selbst allein in dem riesigen Raum der Krankenhausaufnahme. Übrigens, »allein« war sie nur im Chestertonschen Sinn dieses Wortes. Die Feldscher und Sanitäter der Aufnahme zählten offensichtlich nicht. Und ebensowenig zählten die beiden Begleitposten Demidowas, die sich keinen Schritt von ihr entfernten. Der dritte Begleitposten irrte mit den Papieren irgendwo im Labyrinth der Krankenhausschreibstuben umher.
Demidowa hatte nicht einmal die Mütze abgenommen und nur den Kragen des Schaf-Halbpelzes aufgeknöpft. Sie rauchte in aller Ruhe Papirossa um Papirossa und warf die Kippen in den hölzernen Spucknapf mit Sägespänen.
Sie rannte in der Aufnahme von den venezianischen Gitterfenstern zur Tür, und ihre Begleitposten machten jede Bewegung mit und liefen ihr hinterher.
Als der diensthabende Arzt gemeinsam mit dem dritten Begleitposten zurückkam, war schon die schnelle nördliche Dunkelheit da, und man musste das Licht anzünden.
»Sie nehmen mich nicht?«, fragte Demidowa den Begleitposten.
»Nein«, sagte der düster.
»Ich wusste, dass sie mich nicht nehmen. An allem ist Kroschka schuld. Sie hat die Ärztin abgemurkst, und an mir rächt man sich.«
»Niemand rächt sich an dir«, sagte der Arzt.
»Ich weiß es besser.«
Demidowa ging vor den Begleitposten hinaus, die Eingangstür schlug, der Motor des Lastwagens rasselte.
Im selben Moment öffnete sich unhörbar eine innere Tür, und in der Aufnahme stand der Krankenhauschef und sein ganzes Gefolge von Offizieren der Sonderabteilung.
»Wo ist sie denn? Diese Demidowa?«
»Sie fahren sie schon weg, Bürger Natschalnik.«
»Schade, schade, dass ich sie nicht angeschaut habe. Immer Sie, Pjotr Iwanowitsch, mit Ihren Anekdoten …« Und der Chef und seine Begleiter verließen die Aufnahme.
Der Chef hätte wenigstens ein Auge auf die berühmte Diebin Demidowa werfen wollen – ihre Geschichte war tatsächlich nicht ganz gewöhnlich.
Vor einem halben Jahr hatte man die Diebin Aglaja Demidowa, wegen Mordes an einer Arbeitsanweiserin zu 10 Jahren verurteilt – Demidowa hatte die allzu forsche Arbeitsanweiserin erstickt –, vom Gericht ins Bergwerk gebracht. Mit nur einem Begleitposten, denn unterwegs gab es keine Übernachtung, nur die paar Stunden Autofahrt von der Siedlung jener Verwaltung, in der Demidowa vor Gericht stand, bis zum Bergwerk, in dem sie arbeitete. Raum und Zeit sind im Hohen Norden ähnliche Größen. Oft misst man den Raum mit der Zeit, so machen es die nomadisierenden Jakuten – von Bergkuppe zu Bergkuppe sechs Tagesmärsche. Alle, die an der Haupt-Arterie, der Chaussee wohnen, messen Entfernungen in Tagesfahrstrecken.
Demidowas Begleitposten
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