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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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»Experiment«. An einem der kurzen nördlichen Tage wurden sämtliche Insassen des Durchgangslagers Wanino paarweise in einer Reihe aufgestellt.
    Der Chef der Etappe empfahl den Häftlingen einen neuen
starosta
. Dieser
starosta
war der König. Als Kompaniekommandeure wurden seine nächsten Gehilfen eingesetzt.
    Die neue Lagerversorgung wollte keine Zeit umsonst verlieren. Der König lief die Häftlingsreihen ab, schaute jeden konzentriert an und warf hin:
    »Vortreten! Du! Du! Und du!«, der Finger des Königs bewegte sich, hielt oft an, und immer unfehlbar. Das Leben als Dieb hatte seine Beobachtungsgabe geschärft. Wenn der König zweifelte, konnte man es sehr leicht überprüfen, und die Ganoven wie der König selbst – wussten das sehr gut.
    »Ausziehen! Hemd ausziehen!«
    Die Tätowierung – das Stechen, das Erkennungszeichen des Ordens – spielte ihre verhängnisvolle Rolle. Die Tätowierungen sind ein Jugendfehler der
urkagany
. Die ewigen Zeichnungen erleichtern der Kriminalpolizei die Arbeit. Aber ihre tödliche Bedeutung zeigte sich erst jetzt.
    Das Gemetzel begann. Mit den Füßen, mit Knüppeln, mit Schlagringen und Steinen schlug die Bande des Königs die Adepten des alten Gesetzes der Diebe »auf gesetzlicher Grundlage« kurz und klein.
    »Nehmt ihr unseren Glauben an?«, schrie der König triumphierend. Jetzt wird er die Seelenstärke der halsstarrigsten »Orthodoxen« prüfen, die ihm selbst Schwäche vorwarfen. »Nehmt ihr unseren Glauben an?«
    Für den Übertritt zum neuen Gesetz der Diebe hatte man ein Zeremoniell erdacht, ein Theaterspiel. Die Ganovenwelt liebt das Theatralische im Leben, und hätten N.N. Jewreinow oder Pirandello davon gewusst – sie hätten es nicht versäumt, ihre szenischen Theorien um weitere Punkte zu bereichern.
    Die neue Zeremonie stand dem bekannten Ritterschlag in nichts nach. Nicht ausgeschlossen, dass die Romane Walter Scotts diese feierliche und düstere Prozedur angeregt haben.
    »Küss das Messer!«
    Die Messerklinge wurde an die Lippen des geprügelten Ganoven geführt.
    »Küss das Messer!«
    Wenn der Dieb »im Gesetz« bereit war und die Lippen an das Eisen legte – galt er als in den neuen Glauben aufgenommen und hatte für immer alle Rechte in der Welt der Diebe verloren, war auf ewig »
suka
« geworden.
    Dieser Gedanke des Königs war ein wahrhaft königlicher Gedanke. Nicht nur, weil der Schlag zum Ganovenritter eine vielköpfige Reserve für die Armee der »
suki
« versprach – bei der Einführung dieser Messerzeremonie hatte der König wohl kaum an den morgigen oder übermorgigen Tag gedacht. Aber an etwas anderes hatte er sicher gedacht! Er wird all seine alten Freunde der Vorkriegszeit vor dieselben Bedingungen stellen – Leben oder Tod! – unter denen er, der König, nach Meinung der »orthodoxen« Diebe gekniffen hatte. Sollen sie sich jetzt selbst beweisen! Die Bedingungen sind dieselben.
    Alle, die sich weigerten, das Messer zu küssen, wurden umgebracht. Jede Nacht wurden zu den von außen verschlossenen Türen der Etappen-Baracken neue Leichen geschleppt. Diese Leute waren nicht einfach getötet worden. Das war dem König zu wenig. Auf allen Leichen hatten ihre ehemaligen Kameraden, die das Messer geküsst hatten, mit dem Messer »unterschrieben«. Die Ganoven waren nicht einfach getötet worden. Vor ihrem Tod hatte man sie »gekeilt«, d.h. mit Füßen getreten, geschlagen, auf alle Weisen entstellt … Und erst dann – getötet. Als ein oder zwei Jahre später eine Etappe aus Workuta kam und einige berühmte »
suki
« aus Workuta (dort hatte sich dieselbe Geschichte abgespielt) vom Dampfer stiegen – stellte sich heraus, dass man in Workuta die übermäßige Grausamkeit der Leute von der Kolyma nicht billigte. »Bei uns wird einfach umgebracht, aber ›keilen‹? Wozu?« Also lagen die Dinge in Workuta etwas anders als bei der Königs-Bande.
    Die Nachricht vom königlichen Gemetzel in der Bucht von Wanino flog über das Meer, und an der Kolyma schritten die Diebe des alten Gesetzes zur Selbstverteidigung. Man verkündete die totale Mobilisierung, die gesamte Ganovenwelt bewaffnete sich. An der Herstellung von Messern und kurzen Spießen arbeiteten heimlich sämtliche Schmieden und Schlosserwerkstätten an der Kolyma. Es schmiedeten natürlich nicht die Ganoven, sondern echte hauptamtliche Meister, unter Drohung, »aus Schiss«, wie die Ganoven sagten. Sie wussten wesentlich früher als Hitler, dass es sehr viel sicherer ist, einen

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