Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Episoden des echten Krieges spiegelten sich, wie im Zerrspiegel, in den Ereignissen der kriminellen Welt wider. Die atemberaubende Realität der blutigen Ereignisse versetzte die Anführer in große Begeisterung. Selbst ein einfacher Taschendiebstahl, der drei Monate Gefängnis kostet, oder ein »Einschleichen« in eine Wohnung werden mit einem gewissen »schöpferischen Schwung« verübt. Sie gehen einher mit einer, wie die Ganoven sagen, unvergleichlichen geistigen Anspannung höherer Ordnung, einer wohltuenden Nervenvibration, bei der der Dieb spürt, dass er – lebt.
Um wie viel lebhafter, sadistisch lebhafter das Gefühl des Mordens, des vergossenen Blutes; dass der Gegner ebenfalls ein Dieb ist, verstärkt die Lebhaftigkeit der Gemütsbewegungen noch. Der Sinn der Ganovenwelt für Theatralik äußert sich in diesem vieljährigen blutigen Spektakel. Hier ist alles echt und alles Spiel, ein schreckliches, tödliches Spiel. Wie bei Heine: »man speiste Fleisch, Und das Blut war Menschenblut.«
Die Ganoven spielen und ahmen die Politik und den Krieg nach. Ihre Anführer haben Städte belagert, Kundschaftertrupps losgeschickt, die Verbindungswege des Gegners gekappt, Verräter verurteilt und aufgehängt. Alles war Realität und zugleich Spiel, ein blutiges Spiel.
Die Geschichte der Kriminellen, die viele Jahrtausende zählt, kennt viele Beispiele für blutige Kämpfe unter den Banditenbanden – um Reviere, um die Vorherrschaft in der Ganovenwelt. Viele Besonderheiten des »
suki
«-Krieges machen ihn dennoch zu einem Ereignis, das einzig ist in seiner Art.
–
1959
Apoll unter den Ganoven
Die Ganoven mögen keine Gedichte. Gedichte haben nichts zu suchen in dieser allzu realen Welt. Welchem innersten Bedürfnis, welchen ästhetischen Ansprüchen der Ganovenseele soll die Poesie entsprechen? Welche Bedürfnisse der Ganoven soll die Poesie befriedigen? Einiges darüber wusste Jessenin, vieles hat er erahnt. Allerdings scheuen selbst die gebildetsten Ganoven das Gedicht – das Lesen gereimter Verse erscheint ihnen als peinlicher Zeitvertreib, als Alberei, die sie ärgert in ihrer Unbegreiflichkeit. Puschkin und Lermontow – sind zu schwierige Dichter für jeden, der zum ersten Mal im Leben mit Poesie in Berührung kommt. Puschkin und Lermontow erfordern eine bestimmte Vorbereitung, ein bestimmtes ästhetisches Niveau. Mit Puschkin kann man niemanden an die Poesie heranführen, so wenig wie mit Lermontow, Tjuttschew und Baratynskij . Allerdings gibt es in der klassischen russischen Poesie zwei Autoren, deren Gedichte eine ästhetische Wirkung auf den unvorbereiteten Zuhörer haben, und die Heranbildung der Liebe zur Poesie, ein Verstehen von Poesie muss eben mit diesen Autoren beginnen. Das sind natürlich Nekrassow und besonders Aleksej Tolstoj. »Wassilij Schibanow« und die »Eisenbahn« sind in diesem Sinne die »sichersten« Gedichte. Das habe ich viele Male überprüft. Aber weder die »Eisenbahn« noch »Wassilij Schibanow« haben auf die Ganoven Eindruck gemacht. Es war klar, dass sie nur der Fabel der Geschichte folgten und eine Nacherzählung in Prosa oder wenigstens den »Silbernen Fürsten« von Aleksej Tolstoj vorgezogen hätten. Genauso wenig sagte eine belletristische Landschaftsbeschreibung in irgendeinem vorgelesenen Roman der Seele des zuhörenden Ganoven, und man sah ihm den Wunsch an, dass möglichst bald die Beschreibung einer Handlung, einer Bewegung käme oder wenigstens ein Dialog.
Natürlich hat auch der Ganove, wie wenig Menschliches an ihm auch sei, ein ästhetisches Bedürfnis. Es wird befriedigt durch die Gefängnislieder – diese Lieder sind sehr zahlreich. Es gibt epische Lieder wie das schon verschwindende »Satz-und-Ratz« oder die Stanzen zu Ehren des berühmten Gorbatschewskij und anderer analoger Stars der Verbrecherwelt, oder das Lied »Die Insel Solowki«. Es gibt lyrische Lieder, in denen sich das Gefühl des Ganoven ausdrückt, sie sind auf ganz besondere Art gefärbt, und man unterscheidet sie sofort vom gewöhnlichen Lied – in ihrer Intonation wie in ihrer Thematik und ihrem Weltempfinden.
Das lyrische Gefängnislied ist gewöhnlich äußerst sentimental, klagend und rührend. Das Gefängnislied hat trotz einer großen Zahl von orthoepischen Fehlern immer innigen Charakter. Dazu trägt auch die Melodie bei, die oft sehr eigentümlich ist. Bei all ihrer Primitivität verstärkt die Darbietung den Eindruck des Gehörten enorm – denn der Darbietende ist kein
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